: „Das können Sie doch nicht mir vorwerfen“
■ Jeden Monat verkündet Arbeitsamtspräsident Clausnitzer die – zumeist steigende – Statistik der Erwerbslosigkeit. Er wählt warnende Worte und benennt Ursachen: Struktur, Konjunktur, Meteorologie
Schmallippig, mit durchdringendem Blick, betritt der hagere Mann jeden Monat wieder – meist am 5. Kalendertag – den Saal im vierten Stock des Landesarbeitsamts. Für gewöhnlich schüttelt er allen Anwesenden die Hand, doch mittlerweile vernachlässigt Claus Clausnitzer diese Übung, denn der Andrang der JournalistInnen zur Verkündung der Arbeitslosenstatistik ist zu groß geworden. Der Präsident des Landesarbeitsamtes für Berlin und Brandenburg, Verwalter von nun 548.500 Erwerbslosen, ist kein Freund beschönigender Worte: „Ich kann es kurz machen, die Lage am Arbeitsmarkt ist nach wie vor schlecht.“
Durch die allmonatliche Variation und Neuauflage hat Claus Clausnitzers Vokabular ein wenig von seiner aufrüttelnden Wirkung eingebüßt. Die Zahlen der Arbeitslosigkeit sind „unerträglich hoch“, die „Talsohle ist noch nicht erreicht“, die Entwicklung „geht weiter abwärts“. Zumeist erspart es sich der Präsident, die Zahlen vorzutragen: Die bekommen die Anwesenden schriftlich.
Rede und Ausdruck des Präsidenten wie die Einrichtung des Saales atmen institutionalisierte Depression. Hinter Clausnitzer, an der Schmalseite des Raumes, hängt zwischen braunen Holztüren ein graues Fabrikgemälde mit zwei Stahlarbeitern. Als entfernte Hoffnung lockt gegenüber eine sonnendurchflutete Parklandschaft des Impressionismus.
Drei Begründungen gibt es für die Realität: Struktur, Konjunktur und Meteorologie. Die strukturelle Krise der Berlin-brandenburgischen Ökonomie ist tief, die konjunkturelle Entwicklung läßt allgemein zu wünschen übrig. Weil Claus Clausnitzer trotzdem ein wenig Optimismus nicht fehlen lassen will, beruft er sich auf das ausnahmsweise erwerbsfördernde Wetter. „Ich bin froh und dankbar, daß der Februar so warm war.“ Dadurch hat die Zahl der Erwerbslosen nämlich nur leicht zugenommen.
Clausnitzer weiß: Er ist der Überbringer der schlechten Nachricht, will sich dafür aber nicht köpfen lassen. „Die Arbeitsverwaltung kann keine Arbeitsplätze schaffen“, erklärt er jeden Monat, blendet damit die Möglichkeiten aus, mehr ABM-Maßnahmen zu vergeben, und verweist auf die Unternehmen der Wirtschaft. Doch die Fragen aus dem Saal werden mit jedem Hunderttausendersprung der Statistik drängender: Warum tut man nichts? Dann werden Clausnitzers Lippen noch schmaler, und er preßt heraus: „Das können sie doch nicht mir vorwerfen.“
Seine Aufgabe sei es, seinen „Kunden“, den Arbeitslosen, vorhandene Stellen anzubieten, nicht neue zu schaffen. Hannes Koch
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