■ Zur Einkehr: Bei Heinz
„Wie wäre es mit Rehgulasch“, fragt die Verkäuferin hinterm Tresen. „Ja, warum nicht“, antworte ich und annuliere die Bestellung Rindsroullarde. Ich muß mich dabei bücken, damit die Worte nicht an der Glasscheibe abprallen, die bis auf eine Höhe von 1,70 Metern von der Decke herunterreicht. Ich bin laut Paß doch nur 1,83 groß. Wie muß es den „jungen Leuten“ergehen, die der Wohlstand in die Länge und nicht in die Breite wachsen läßt? „Gut, junger Mann, einmal Rehgulasch“, sagt die wohlgenährte, nicht aber große Verkäuferin und verschwindet – mutmaßlich in der Küche.
Schlachter Heinz an der Pappelstraße in der Bremer Neustadt hat heute Rehgulasch im Angebot. Denn der Filialbetrieb, der sich den großen Laden mit der Filiale einer Großbäckerei teilt, verkauft Fleisch in erster Linie roh. Außerdem gibt es eine „Heiße Theke“. Als kleiner Abschnitt Tresen ist sie zwischen einen Pfeiler und ein Warmhalteregal für das Speisenangebot gezwängt. Hat sich Schlachter Heinz die Kismets oder Alladdins zum Vorbild genommen, die ihre Kebabs – mit Ausnahme von „einma Döna“– in den Schaufenstern präsentieren? Laut Hochregal bietet Heinz – portionsweise auf Tellern angerichtet – an: Grünkohl (komplett), Königsberger Klopse, Frikadelle mit Kohlrabi-Gemüse und weitere Hausmannskost im Preisspektrum zwischen fünf und neun Mark. Das Rehgulasch ist aber ein Geheimtip.
Die Verkäuferin hat eine Portion mitgebracht und stellt sie in eine Mikrowelle. Sie meint es gut. Zu gut. Nach dem „ding“des Gerätes ist der Teller buchstäblich randvoll. Doch die Frau, die mich offenbar vor dem Verhungern retten will, balanciert ihn fast unfallfrei auf einen Stehtisch am Fenster. Nun stehe ich vor der ganzen Güte.
Ich mag nunmal Fleisch. Eine in Unitagen selbst auferlegte Askese habe ich längst aufgegeben. Ich mag auch Rehgulasch. Sogar dieses. Selbst wenn es nur aus Fleisch, Sauce und beigelegten Kartoffeln besteht. Kein Gemüse, keine Pilze nirgends. Dafür nur Güte.
Meine Güte. Das sonst hilfreiche Zerdrücken einer Kartoffel hätte eine Flutwelle zur Folge. Ein Strohhalm ist auch nicht zur Hand. Nicht mal ein Löffel. Aber es gelingt, die Bruttosaucenverdrängung zu verringern. Fragen Sie nicht, wie.
Aber gehen Sie zu Schlachter Heinz. Sie erfahren, was sich die meist älteren, dem Personal namentlich bekannten KundInnen werktags gönnen. Und Sie lernen, was demographische Entwicklung bedeutet. Sie müssen ja nicht unbedingt etwas essen. Christoph Köster
Heinz, Pappelstraße 87
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