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„Ich bin der Volkserreger“

Die Raumpatrouille Schlingensief ist in der Realpolitik gelandet. Am Wochenende wurde in Berlin die Partei der letzten Chance gegründet alias Chance 2000, es gab ein Rahmenprogramm, einen Zwischenruf, und der „König der Herzen“ war wieder schneller als alle  ■ Von Petra Kohse

„Ich komme aus Wildau. Bei Königs Wusterhausen. Da muß ich jeden Tag fünfzehntausend Hühner schlachten.“ Der grimmig guckende Mittvierziger sagt's und will wieder gehen. Eine Geschichte, die das Leben schrieb? Nicht ganz. Vorgestellt hat sich Achim von Paczensky als „Heiner Müller“, obwohl er diesmal kein schwarzes, sondern ein eigenes Kassengestell auf der Nase trägt. Doch ob mit oder ohne Kostüm – wenn der Hilfsarbeiter bei Christoph Schlingensief auftritt, ist er zwar ganz er selbst, aber trotzdem eine Kunstfigur. Genau wie der faßförmige Werner Brecht, der mit dem Schild „Scheitern als Chance“ herumsteht oder – wir sind im Zirkus – sich auf ein Seil setzt und für den Bruchteil einer Sekunde die Füße vom Boden hebt. Großer Beifall.

„Chance 2000 – Wahlkampfzirkus 98“ im Prater der Berliner Volksbühne. Christoph Schlingensiefs neueste Theatershow und mehr als das: das Rahmenprogramm zu einer echten Parteigründung, der Partei der letzten Chance, auch Chance 2000 genannt, ganz einig ist man sich noch nicht. Eine Partei für Arbeitslose, Behinderte und andere Minderheiten, die zusammen eine Mehrheit bilden und dennoch nicht aneinander, sondern an sich selbst glauben sollen. „Wetten, daß du dich bei den Bundestagswahlen selber wählen kannst?“ fordert ein Parteigründungsflugblatt auf. „Dies ist kein Fake – wähl dich selbst, du kannst es!“

Ums nackte Leben also geht es Christoph Schlingensief diesmal und um die Realpolitik. Nach „Rocky Dutschke“ und dem anschließenden Kanzlerpuppenmassaker vor zwei Jahren und „Schlacht um Europa“ im letzten hat er bereits mit seiner Hamburger „Bahnhofsmission“ Kurs auf die wirkliche Wirklichkeit genommen und mit einer künstlerischen Aktion sozial etwas in Bewegung gesetzt. Um zu zeigen, daß alles möglich ist, es nur sonst keiner probiert.

Auch seine „Talk 2000“-Runden mit Hildegard Knef, Ingrid Steeger oder Gotthilf Fischer waren dazu da, zu beweisen: „Jeder in Deutschland kann Talkmaster werden!“ Und weil er den Talkton so charmant beherrscht, weil noch in der letzten seiner wütenden Entgleisungen ein heißes Bemühen glimmt, weil er ein hübsches Gesicht hat und ein echtes Anliegen – deswegen wurde aus Christoph Schlingensief, dem filmemachenden „Genie des Grauens“, ein Publikumsliebling. Zumindest seit er begonnen hat, nicht nur Theater zu machen, sondern in seinen Inszenierungen in der Berliner Volksbühne auch selbst aufzutreten.

Mittlerweile hat Christoph Schlingensief auch die Aura des ewig beleidigten Moralisten verloren. Er hat statt dessen Autogrammwünsche zu befriedigen, sitzt bei Alfred Biolek und Sabine Christiansen und erzählt natürlich Unsinn, wenn er behauptet, sich mit dem Staatsgeld, das ihm die Volksbühne oder das Hamburger Schauspielhaus zur Verfügung stellen, „außerhalb des Systems“ zu bewegen. Ganz unzweifelhaft ist die Raumpatrouille Schlingensief Teil des Systems, das zu unterminieren sie vorgibt. Und wenn es nach einer Aktion auf der documenta X zu einer kurzfristigen Verhaftung gekommen ist und die Volksbühne „nur“ Landesgeld und keine Sonderförderung des Bundes bekommt, ist auch das kaum mehr als eine Gratifikation auf Sonderposten innerhalb des Orbits.

Aber handeln Schlingensief und sein Chefideologe, der Dramaturg Carl Hegemann, auch systemimmanent, so machen sie sich doch ganz entschieden um die leer gelassen Stellen verdient. Ihre liebevoll polemische Aufforderung an alle, zu beweisen, daß sie wirklich da sind und sich nicht nur als siebte Kopie ihrer selbst an ihrem bißchen Leben abzuarbeiten, steht wie ein Fels in der Brandung des allgemeinen Selbstverwirklichungswahns. An dieser Aufgabe führt nichts vorbei, und aus der existentiellen Ratlosigkeit, die sich im Angesicht ihrer Unlösbarkeit auftut, taucht nun Christoph Schlingensief auf, eine rührige Heilsgestalt.

Im Paillettenjäckchen oder smarten weißen Anzug nachlässig crossgedressed, mit Perücke und Megaphon stets handlungsbereit, eilt er voran, den Entrechteten dieser Welt seine Stimme zu leihen und die Unsichtbaren ins Bild zu rücken. Was Struktur war, wird Chaos, was Gesellschaft war, wird Familie, was Diskurs war, Liebe und Lust. „Jeder Blick in das Gesicht eines Menschen, dem geholfen ist, ist der Blick in eine schöne Gegend, Freund Freund Freund“, singen Schlingensief und Hegemann und mit ihnen die mit Schnäuzern gut getarnten Schauspieler Martin Wuttke und Bernhard Schütz wie alle anderen am Ende des „Wahlkampfzirkus“ wieder und wieder, strahlend und immer strahlender, bis das ganze Zelt mitklatscht und „Zugabe!“ brüllt.

Nur Achim von Paczensky ist mit seiner Verlobten schon lange Essen gegangen, und Werner Brecht zeigt sich erst ganz, ganz am Ende, um träge ein bißchen Applaus abzugreifen. Alle anderen aber sind mit Leib und Seele infiziert. Nicht umsonst hat Wuttke, der bei den Dreharbeiten zu Schlingensiefs Film „Die 120 Tage von Bottrop“ initiiert wurde, zuvor von der Galerie gebrüllt, bis er fast heiser wurde: „Ich bin der Volkserreger, und ihr seid eine autogene Streßplastik.“ Das läßt man sich nicht zweimal sagen, und getreu einem der vielen Motti des Abends, „16 Jahre sind kein Leben“, faßte sich das Publikum geistig an den Händen.

Zu diesem Zeitpunkt befanden sich bei der Premiere des bis Ostern dauernden Kulturprogramms Chance 2000 bereits 312 Parteigründungsmitglieder unter den Mitklatschern. Außerdem Nur-Zuschauer, die ebenfalls selig waren, doch noch auf ihre Kosten zu kommen. Denn der wirklich gemütliche Teil des Abends hatte erst nach der Parteigründung und der langwierigen Unterzeichnungszeremonie begonnen. Danach erst rückte sich auch die Zirkusfamilie Sperlich ins Licht mit einer sehr schönen Seilnummer, dressierten Tauben, Ziegen und Ponys sowie diversen Balanceakten allerseits. Dazwischen die Schlingensief-Truppe mit eigenen und assoziierten Nummern, alles sehr zärtlich und lustig, und Christoph Schlingensief saß auf der Tribüne und schien glücklich. Feierabendstimmung nach dem politischen Tagesgeschäft.

Vor der Parteigründung nämlich war keine Zeit für lustig gewesen. Aufwendig und ernst hatte man wenig bis nichts getan. Schlingensief schrieb einzelne Wörter auf eine Tafel, moderierte zögerlich und ergriff dann Schilder mit der Aufschrift „Kunst“ oder „Politik“, Frau Garzaner parodierte wie immer Sigrid Löffler, ihr Sohn Mario (Sönke Buckmann im „Bottrop“-Film) tanzte, Oberstaatsanwalt Dietrich Kuhlbrodt erinnerte daran, daß die ganze Gewalt vom Volke ausgehe, die Schauspielerin Astrid Meyerfeldt turnte ergreifend, und wahrscheinlich war es ihr Kollege Schütz, der ins Publikum brüllte: „Ihr seid ja nur Schwenkfutter für die Kameras.“ Was stimmte, denn mindestens dreifach wurde gefilmt.

Dicht an der Manege saßen die Feuilletonprominenz und Kulturschickeria, dahinter standen viele mit und ohne Karten, dahinter wiederum saßen weitere. Ein Publikumsgewühl, wie es selten eines gibt, dabei kaum Stimmung und lange Gesichter. Wer gekommen war, weil selbst konservative Medien in den letzten Wochen auf den Spaßnik Schlingensief aufmerksam machten, und sich auf die Schnelle überzeugen wollte, wie Chaos und Selberleben funktioniert, wurde enttäuscht. So einfach ist das vermeintliche Gegensystem Schlingensief eben nicht, daß es seine offensichtliche Integration widerspruchsfrei hinnähme und hinter frisch geschossenen Bildern wieder verschwände. Da sind Christoph und Carl doch noch einen Schritt weiter und zeigen den Leerlauf in seiner ganzen Holprigkeit. Daß „das Leben interessanter ist als das, was man uns vormacht“ – Schlingensief hat es eingangs angekündigt und bis zur Parteigründung durchgehalten.

„Jedem Publikum das Theater, das es verdient“, erinnert auch die „Forschungsgruppe Selbstbehustung“ auf einem weiteren Flugblatt, und: „Stell dir vor, es ist Christoph, aber nur Helmut Kohl kommt.“ Was im ersten Teil des Abends tatsächlich passierte. Denn trotz Pausendramaturgie und Beschimpfung blieben die Zuschauer in ihren Grenzen und forderten nichts außer mal ein bißchen frische Luft. Selbst während der Parteigründung verschaffte sich nur einmal eine Stimme Gehör: „Mehr Frauen! Eine Frau soll die Versammlung leiten.“ So ist es, das bewegte Publikum, und kann nicht anders. Doch Christoph Schlingensief, der „König der Herzen“, ist wirklich einer und läßt sich seine Show von keiner Seite sprengen. „Aha“, sagte er interessiert, „da sind wir schon bei der Frauenfrage und haben doch nicht mal den Parteinamen geklärt.“ Und verlor im folgenden kein Wort mehr darüber.

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