: „Los, sag es! Sag: Schalke ist Scheiße“
Heute spielt Schalke 04 im Uefa-Cup-Viertelfinale gegen Inter Mailand. Schalke wird ausscheiden. Das geht aber in Ordnung, Schalker sind Leiden gewohnt. Mit einem Bericht aus dem Inneren eines lebenslangen Schalke-Fans meldet sich ■ Markus Franz
Nie vergesse ich das erste Mal. Es muß 27 oder 28 Jahre her sein. Es war nach einem Spiel unserer Straßenmannschaft. Ich sehe mich in der Sonne auf unserem geliebten Bolzplatz sitzen, der weiten, ausgetretenen Rasenfläche, die längst verschwunden ist unter Terassen, Garagen und Einfamilienhäusern.
Lange nach dem Spiel sitzen wir noch da, zu dritt, der schlaksige Burkhard und Michael, der, glaube ich, Polizist geworden ist. Wir reden über die Bundesliga. Über den MSV. Das Stadion der Duisburger ist nur einen Katzensprung von hier. Fast alle meine Freunde und Klassenkameraden sind für den MSV. Wer von beiden mir die Frage stellt, weiß ich nicht mehr: „Und für welchen Verein bist du?“
Ich weiß noch, daß ich zögerte. Diese Frage habe ich mir nie gestellt.
Ich habe immer bloß gespielt. Wie heute. Wir in den orangefarbenen Trikots. Ich der Käpten. Wir vom Werntgenshof. Die anderen vom Siepmannshof. Wir eindeutig besser. Aber dann verschießt Markus, der andere, der größere, einen Elfmeter. Obwohl ich doch der Elferschütze bin. Und Christoph, der Kapitän von den anderen, foult ständig. Jetzt rächt es sich, daß wir keinen Schiedsrichter haben. Als sie uns wieder einen Elfmeter verweigern, halte ich es nicht mehr aus. Weinend renne ich quer über den Platz, irgendwohin, nur weg.
Aber dann komme ich doch zurück. Es steht 1:1. Und dann bin ich am Ball und renne auf das gegnerische Tor zu. Christoph tritt nach mir, ich strauchele, er zerrt an meinem Trikot, ich wanke, aber ich ziehe ihn mit. Immer näher auf das Tor zu, in dem dieser von Schulenburg mit unglaublichen Paraden fast alles hält. Und dann treffe ich links unten in die Ecke. Wir gewinnen 2:1.
Heute, wie gesagt, ist der Bolzplatz nicht mehr.
Die Frage also, die Nachmittagssonne, mein Zögern, Burkhard und Michael: „Und für welchen Verein bist du?“
Und dann sage ich, vielleicht weil Blau meine Lieblingsfarbe ist und nur die eine Mannschaft die Königsblauen sind oder weil Freude durch vorangegangenes Leid noch intensiver wird, oder weil nur die eine Antwort mir all die Verzweiflung, den Spott, die Tränen aber auch die Begeisterung, die Glücksgefühle, all die Freudentränen einbringen wird... „Schalke“, sage ich.
Wie das Gespräch weiterging, habe ich vergessen. Seit diesem Moment bin ich Schalker.
Ich war zwölf, als ich nicht mehr wollte. Ich wollte nicht mehr Schalke-Fan sein. Es tat zu weh. Schalke 04, das wußte ich inzwischen, hatte eine glorreiche Vergangenheit hinter sich, war siebenmal Deutscher Meister. Aber Schalke war auch der „FC Meineid“. Mein Verein hatte ein Spiel gegen Bielefeld verkauft, und die Spieler hatten das unter Eid bestritten. „FC Meineid... FC Meineid... FC Meineid“ rollten fortan die Gesänge der gegnerischen Schlachtenbummler bedrohlich durch die Stadien. Und was noch viel schlimmer war: „FC Meineid“ riefen auch die Klassenkameraden.
„Sag: Schalke ist Scheiße!“ hieß es auf dem Schulhof. „Los, sag es: Schalke ist Scheiße. Wenn nicht... Los: Schalke ist Scheiße!“ Ich hab's nie gesagt. Und Prügel gekriegt. Nicht schlimm, aber geheult hab' ich doch. Sollte ich mir das weiter antun? Hatte so ein Verein meine Unterstützung verdient? Die Gladbacher, die waren sympathisch. Und ganz nebenbei: Erfolgreicher waren sie auch. Im Sommer 1975 wünschte ich mir ein Gladbach-Trikot zum Geburtstag. Ich zog es an, dieses Trikot, im Sommerurlaub auf Langeoog. Am ersten Spieltag nach der Sommerpause fuhren wir wieder nach Hause. Das Radio lief. Gladbach schoß ein Tor. Dann schoß Schalke eins. „Jaaaaah“, brach es aus mir heraus, daß meine Eltern zusammenzuckten. Ich lernte: Es hat keinen Zweck, sich gegen sein Schicksal aufzulehnen.
Dann das erste Mal im Stadion. Wir, ein paar Freunde und mein Vater saßen auf der Tribüne. Kindergeburtstag. Schön, wenn Väter so sind. Wir gewannen 3:0 gegen Rot-Weiß Essen. Abramczik und Lütkebohmert schossen, glaube ich, die Tore. Ein glatter Sieg. Schön. Ein schöner Kindergeburtstag. Aber das war es nicht. Schalker müssen leiden.
Es war gegen Braunschweig. Im Parkstadion. Der Himmel blau und weiß. Wie unsere Trikots. Die zweite Strophe im Vereinslied heißt: „Mohammed war ein Prophet, / der vom Fußballspielen nichts versteht. / Doch von all der schönen Farbenpracht / hat er sich das Blau-und-Weiße ausgedacht.“
Weiße Papierschnitzel fliegen durch die Luft; Fahnen wehen im Wind. In den Reihen an- und abschwellende Gesänge. Die Braunschweiger geht mit 2:0 in Front.
Aus! Alles ist aus! Es tut weh im Bauch. Es nagt im Kopf. Ich will nicht mehr hinsehen. Ich will nach Hause. Weg hier.
Und dann passiert's: Ein Tor für uns. 60.000 springen hoch, reißen die Arme in die Luft, schreien, umarmen sich. Nachdem der Jubel abgeklungen ist, hallt es beschwörend durch das Rund: „Schalke... Schalke... Schalke...“ Die blau- weißen Fahnen wehen wieder.
60.000 Menschen. 60.000, die dasselbe wollen wie du. Nur das eine. Inbrünstig, leidenschaftlich. Die es rauslassen, was auch immer. Wieder Hoffnung. Alle Lethargie ist weg. Im Bauch kribbelt's. Spannung entlädt sich in Schreien. Dann das 2:2.
Mehr als zwei Jahrzehnte ist es her. Doch dieses Glücksgefühl vergesse ich nie. Im Kopf explodiert's. Du schreist und schreist und schreist. Du hast es geschafft. Du hast alles in diesem Moment, alles was du willst.
Braunschweig hat dann doch noch 3:2 gewonnen.
Der erste Abstieg kam mit 17. In diesem Jahr hatte ich vor Ostern fünf blaue Briefe bekommen. Um Schalke stand es auch nicht besser. Das mit den Schulnoten bekam ich bis zum Sommer hin. Aber das Unausdenkbare geschah.
Das entscheidende Spiel war ausgerechnet in Duisburg. Ich war nicht im Stadion. Zu aufregend. Aber ich gab alles. Zuhause, vor meiner Dartscheibe. Jeder Wurf in die Triple 20 bedeutete ein Tor für Schalke. Das hatte ich so ausgemacht. Ich warf und warf. Ich war kein guter Dartspieler. Das Feld in der Mitte war wie vernagelt. Meine Kondition ließ nach, mein Arm tat weh. Doch dann, kurz vor der Halbzeit, das erlösende 1:0. Drei weitere Treffer folgten. Vier Tore, das mußte reichen. Mehr wäre unrealistisch.
Schalke verlor 2:1.
Gab es etwa keinen Gott? Wie konnte er geschehen lassen, daß ausgerechnet dieser Verein, der Verein mit den meisten echten Fans, den treuesten, den leidenschaftlichsten, den leidgeprüftesten, daß Schalke 04 absteigen muß? Natürlich weinte ich und haßte den MSV und die ganze Welt. Ja, Schalker sein heißt leiden. Aber auch leiden will gelernt sein.
In der Endphase des zweiten Abstiegs, 1988, lernte ich Manuela kennen. In England. Weit weg. Montags suchte ich die Times nach dem Kleingedruckten im Sportteil ab. Bei McDonald's am Trafalgar Square. Der Tabellenstand wurde immer bedrohlicher. Aber die nackten, kleinen Zahlen ließen keine richtige Verzweiflung aufkommen. Ich liebte England. Ich liebte Manuela. Schalke war anderswo. Das Leben ist auch so nicht schlecht, is it?
Manuela ging. Schalke blieb. Den dritten Abstieg im Jahr 1991 hatte man schon kommen sehen. Ich war wieder zu Hause und wußte: Auch in der zweiten Liga kommen 30.000, brausen die Schlachtgesänge, lösen Tore diese unbeschreibliche Freude aus. Und schmiedeten uns Schalker die vielen Mißerfolge und Skandale nicht nur fester zusammen?
„Skandalverein“ schrien mir die Zeitungen immer noch regelmäßig entgegen. Kein Verein steht ständig so dicht vor dem Konkurs. Nirgendwo werden schneller Trainer gefeuert, nirgendwo gehen mehr Präsidenten. Freunde, Kollegen, die Presse, sie alle feixen und spotten. Sollen sie doch.
Gibt es Gerechtigkeit? Gibt es einen Lohn für aufrichtige, treue Liebe? Nicht, daß Schalker Fans Erfolge einfordern würden. Das liegt ihnen zu fern. Aber irgendwann, irgendwann müssen doch selbst wir an der Reihe sein.
21. Mai 1997. Meazza Stadion in Mailand. 88.000 Zuschauer. 20.000 davon Schalker. Das Stadion bebt unter dem Auf und Ab von zehntausenden italienischen Zuschauern, ihre Schlachtgesänge drücken auf die Ohren, der Anpfiff ertönt, und schon muß ich schlucken. Uefa-Cup-Endspiel in Mailand, und wir sind dabei.
Wir haben Roda Kerkrade geschlagen. Trabzonspor am Schwarzen Meer geschlagen. Brügge geschlagen. Valencia geschlagen. Teneriffa geschlagen. Und selbst in Brügge und Valencia war ich dabei. Von Runde zu Runde wurden wir ungläubiger. „Wir Blinden sind weiter“, sagten die Spieler nach dem Viertelfinale. „Wir blinden Nackermänner“ variierte Torhüter Lehmann nach dem Halbfinalerfolg gegen Teneriffa.
Und selbst hier in Mailand, im Endspiel, sangen wir Fans trunken: „Finale, Finale“ und nicht, „wir holen den Uefa-Cup“. Als hätten wir mit dem Finale alles, aber auch alles erreicht. Als wir auch Mailand geschafft haben, sagen alle: „Ich habe noch nie so viele erwachsene Menschen weinen gesehen.“ Was heißt weinen? Schluchzend bin ich in die Knie gegangen.
Heute abend spielen wir wieder gegen Inter. Wir werden ausscheiden. Aber wie sagt doch mein Freund Herry stets, wenn wir Trost brauchen: „Schalke spielt immer.“
Markus Franz (35) ist politischer Korrespondent der taz in Bonn. „Insgeheim“ (Franz) hofft er natürlich doch, daß es für Schalke reicht.
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