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Der große Sprung in die Freiheit

■ Joel und Ethan Coen – Kino ohne Festschreibungen: ein Buch, eine Liebeserklärung, viele Filme

Soeben ist Waring Hudsucker auf seinen Konferenztisch in der Chefetage von Hudsucker Industries gestiegen. Mit ihm sehen wir in der Verlängerung des glänzenden, länglichen Tisches, an dem die verdutzten Vorstandsmitglieder des Konzerns ordnungsgemäß aufgereiht sitzen, eine große Fensterscheibe als Fluchtpunkt. Wir befinden uns im 44. Stockwerk (“45, wenn das Zwischengeschoß mitzählt“). Waring Hudsucker legt seine Uhr sorgsam beiseite, scharrt leicht mit den edlen Schuhen und nimmt Anlauf zum letzten Sprung. Diese Sequenz aus Hudsucker – Der große Sprung ist eine der Schlüsselszenen für die Filme der Brüder Joel und Ethan Coen. Und in gewisser Weise gehört sie zu den plakativsten – weil Hudsucker 1994 ihre erste große Hollywood-Produktion gewesen ist: „Keine Mißverständnisse!“

Von Anfang bis Ende ist Hudsucker von einer Bildästhetik durchzogen, die sich der Zentralperspektive verschrieben hat. Mittig geteilte Bilder, symmetrische Räume, gerade Linien laufen zentral auf einen Fluchtpunkt zu – die gesamte Architektur und Ausstattung unterstützt diesen Blickwinkel. Genau davon, könnte man meinen, hat Waring Hudsucker die Schnauze voll. Er wird mit dem Fenster seines Konferenzraumes zugleich diese reine Oberfläche durchbrechen und im Suizid den Ausbruch aus der symmetrisch sauberen Oberflächlichkeit vorführen.

Und tatsächlich, er springt. Was aber findet er (wir) hinter dem Fenster, hinter der Bildoberfläche, kurz bevor er unten aufschlägt? Nichts anderes als exakt die gleiche Zentralperspektive und Bildsymmetrie wie zuvor; diesmal durch verschiedene Hochhaus-Fassaden geleistet. „Hinter der Oberfläche ist Oberfläche, es gibt kein Dahinter“, könnte man diese zwei Sprünge überschreiben. Sie repräsentieren das Spiel mit der Erwartungshaltung des Publikums, das sich durch alle Filme der Coen-Brüder zieht. Wer in Filmen wie Arizona Jr., Miller's Crossing, Barton Fink oder The Big Lebowski auf die Sinnsuche geht, wird hinter den Zeichen wieder neue entdecken, die wiederum mit anderen in Bezug stehen. Das authentische Bild, die Spiegelung von so etwas wie „Realität“findet nicht statt. Vielmehr führen die Filme der Coens vor, daß diese Wünsche nach Eindeutigkeit nicht zu haben sind – zumindest nicht in ihrer Form von Kino.

Von Blood Simple (1984) bis The Big Lebowski, der morgen startet, zelebrieren die Coen-Filme ein Spiel mit Repräsentationsmustern, Genre-Gesetzen und Zuschauererwartungen, das man mit Frederic Jameson „postmodern“oder mit Thomas Elsässer „postklassisch“nennen könnte. In jedem Fall geht es um ein Verzwirbeln von ästhetischen und inhaltlichen Elementen, was wiederum zu einer Feier des Kinos und seiner Möglichkeiten selbst wird. Aus der Liebe zu den Spielarten des Films erwächst mit absurdem Humor der Ausbruch aus den Festschreibungen.

Die Kidnapper Ed und Hi aus Arizona Jr., der Spieler Tom Reagan aus Miller's Crossing, der Drehbuchschreiber Barton Fink, das Landei Norville Barnes aus Hudsucker, die schwangere Polizeichefin Marge Gunderson aus Fargo und der Althippie „The Dude“Lebowski – sie alle erzählen im Kino zugleich vom Kino und von der Unmöglichkeit einer originären Geschichte. Dabei hatte vor allem Fargo gezeigt, wie sich aus der systematischen Dekonstruktion von Authentizität eine eigene Form von Utopie entwickeln kann. Eine Utopie, die sich genau dann aus dem „Coen-Kosmos“ergibt, wenn seine Konsequenzen ernst genommen werden.

Über diesen Coen-Kosmos ist nun das erste Buch in deutscher Sprache zu haben: Joel & Ethan Coen, erschienen im jungen und ambitionierten Bertz-Verlag, dessen Filmbücher sich nicht zuletzt durch ihr reichliches und seltenes Bildmaterial auszeichnen. Mitherausgeber Peter Körte stellt es morgen im Abaton vor. Jedes Werk der Coens findet hier seine detaillierte Besprechung und Bebilderung, abschließend präsentiert Georg Seeßlen seine Analyse des Gesamtwerks unter dem Titel „Spiel. Regel. Verletzung“. Wie heißt es so schön: ein Muß.

Jan Distelmeyer

„The Big Lebowsky“: ab morgen in verschiedenen Kinos

„Barton Fink“: morgen, 22.45 Uhr, Abaton. Einführung: Peter Körte

„Fargo“: Montag, 23. März, 22.45 Uhr, Abaton, Einführung: Annette Kilzer

Buchtip: Peter Körte und Georg Seeßlen (Herausgeber): „Joel & Ethan Coen“, Bertz Verlag, Berlin 1998, 287 Seiten,

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