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Milieubedingte Unhöflichkeiten

■ Wer auf St. Pauli lebt, darf Polizisten „Schmiermichel“nennen

Nein, Polizisten zu liebkosen ist nun wirklich nicht Michael Herrmanns Art. Sie zu beleidigen aber auch nicht, beteuerte er gestern vor dem Hamburger Landgericht. Das glaubte ihm aufs Wort. Richter Jürgen Plate sprach den ehemaligen GAL-Bürgerschaftsabgeordneten vom Vorwurf frei, Polizisten beleidigt zu haben, indem er sie anläßlich einer Hausdurchsuchung als „Schmiermichel“bezeichnete. Das Amtsgericht hatte Herrmann in der ersten Instanz noch eine Geldstrafe von 1600 Mark aufgebrummt.

Der Verbrechensaufklärung versuchte man sich zunächst wissenschaftlich zu nähern. Richter Plate erforschte den soziolinguistischen Hintergrund des Begriffes „Schmiermichel“im mitgebrachten Wörterbuch. Hebräisch sei die Wortwurzel, verkündete er schließlich, und daß „Schmiere“für „Wache“stehe und folglich wertneutral sei. „Schmiermichel“, so später seine vermittelnde Auslegung in der Urteilsbegründung, sei allenfalls eine „milieu-, persönlichkeits-, einstellungs- und situationsbedingte Unhöflichkeit“.

Nun ist es den unhöflichen Äußerungen allerdings eigen, daß sie mal so, mal so aufgefaßt werden können. Das Wort „Rechtsverdreher“zum Beispiel, gibt Staatsanwalt Robert Junck preis, würde ihn, von Angeklagten vorgebracht, tödlich beleidigen, im scherzenden Freundeskreis hingegen belustigen. Mit dem Wort „Schmiermichel“verhält es sich offenbar ganz ähnlich. Zeuge Rainer G. ist Polizeibeamter, war bei der Hausdurchsuchung anwesend und von daher im Sinne Michael Herrmanns ebenfalls ein „Schmiermichel“. Ihn schien das jedoch nicht zu beunruhigen; die Bezeichnung ging bei ihm „da rein, da raus“. Womit er seine Ohren meinte.

Ganz anders erging es Sven D. Der hat ein sensibles Gemüt und „Schmiermichel als Beleidigung aufgefaßt“, wie er sich vor Gericht erboste. Denn in St. Pauli, wo das geschmähte Wort fiel, verbinde er mit einem „Schmiermichel“jemanden, der „draußen steht und auch was abbekommt“.

Seine Empfindlichkeit brauchte allerdings etwas Zeit, um richtig auszureifen. Erst drei Monate nach der Tat schrieb er eine Anzeige – nachdem ein Staatsanwalt die Akte über die Hausdurchsuchung gelesen und ihn darauf hingewiesen hatte, daß er sich doch beleidigt fühlen müsse. Elke Spanner

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