: Mord unter mildernden Umständen
Ein Gericht in der türkischen Provinz verurteilt fünf Polizisten, die 1996 den linken Journalisten Metin Göktepe zu Tode geprügelt haben, zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis. Ein Lehrstück der politischen Justiz ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren
Wenn türkische Polizisten einen Journalisten zu Tode prügeln und treten, können sie mit mildernden Umständen rechnen. Das jedenfalls ist die Lehre des gestrigen Richterspruchs im Prozeß um den Tod von Metin Göktepe. Wegen „unbeabsichtigter Tötung“ verurteilte das Gericht im anatolischen Afyon fünf Polizisten zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis. Nach den geltenden Strafvollzugsbestimmungen werden sie nach drei Jahren Haft freikommen. Sechs weitere angeklagte Polizisten wurden freigesprochen.
Die Anwälte der Angehörigen des Opfers kündigten gestern die Anfechtung des Urteils an. Nach der Urteilsverkündung formierten Hunderte Journalisten – viele kannten Göktepe persönlich – einen Protestzug durch Istanbul. „Die freie Presse kann nicht geknebelt werden“, skandierten sie. Von einem „schockierenden Urteil“ sprach der sozialdemokratische Abgeordnete Sabri Ergül: „Dagegen werden Jugendliche zu 15 Jahren Haft verurteilt, weil sie Parolen an Wände schreiben.“
Der Mord an dem Journalisten Göktepe und der Prozeß sind zum Symbol für den Umgang des Staates mit den Menschenrechten geworden. Die Todesumstände sind mittlerweile unstrittig. Der 27jährige Göktepe, Reporter der damals erscheinenden linken Tageszeitung Evrensel, wollte im Januar 1996 über die Beerdigung von zwei politischen Gefangenen berichten, die im Gefängnis zu Tode geprügelt worden waren. „Ich bin gekommen, um Köpfe abzuschlagen“ lautete die Devise des damaligen Istanbuler Polizeichefs Orhan Tasanlar. Über Tausend Menschen wurden bei einer Demonstrationen zur Beerdigung festgenommen, darunter Göktepe. Zusammen mit Hunderten anderen wurde er in die Sporthalle im Istanbuler Stadtteil Eyüp gepfercht. Als Journalist wurde ihm dort eine „Sonderbehandlung“ zuteil. „Laß den Journalistendreck verrecken“ hätten Polizisten gerufen und Göktepe mit Fäusten und Fußtritten traktiert, berichtete ein Augenzeuge. Göktepe starb an Gehirnblutung. Die Leiche wurde einige hundert Meter von der Sporthalle auf einer Bank gefunden.
Die damalige Ministerpräsidentin, Tansu Çiller, leugnete zuerst, daß Göktepe je in Haft gewesen sei. Später erklärte Innenminister Teoman Ünüsan, Göktepe sei ohne fremdes Zutun von einer Mauer gestürzt und gestorben. Erst die Autopsieergebnisse, Filmmaterial von Göktepes Verhaftung und der Auftritt von Festgenommenen, die Göktepes Ermordung gesehen hatten, wendeten das Blatt. Unter dem starken Druck von Öffentlichkeit und Medien wurde eine Anklage gegen die Polizisten unausweichlich.
Der Skandal setzte sich jedoch nach Prozeßbeginn fort. Immer wieder wurde das Gericht gewechselt. Akten wanderten von einer Stadt in die andere. Um die Öffentlichkeit auszuschließen, erklärte man Istanbuler Gerichte aus „Sicherheitsgründen“ für nicht zuständig. Lange Zeit waren die angeklagten und zeitlich beschränkt vom Dienst suspendierten Polizisten „unauffindbar“. Zufällig erfuhren die Medien dann, daß die Suspendierung wiederaufgehoben worden war. Durch öffentlichen Druck entschied sich das Innenministerium zur Fortsetzung der Suspendierung vom Dienst. Augenzeugen waren massiven Drohungen durch die Polizei ausgesetzt und fürchteten um Leib und Leben. Gegen höhere Vorgesetzte und gegen die politisch Verantwortlichen, die den Mord zu vertuschen versuchten, wurde erst gar keine Anklage erhoben.
Die milden Urteile im Göktepe- Prozeß – einer der wenigen Prozesse, in dem Polizisten überhaupt verurteilt wurden – reihen sich ein in die Generallinie der politischen Justiz. Erst in der vergangenen Wochen wurden Polizisten „mangels Beweisen“ in der ägaischen Stadt Manisa freigesprochen, obwohl die Folterungen von Schülern, die teils erst 14 Jahre alt waren, als erwiesen angesehen wurden. Und am Mittwoch kam es zu Hunderten Festnahmen, als Studenten gegen ein Urteil demonstrierten, wonach acht Studenten, die ein Transparent gegen hohe Studiengebühren im Parlament entrollt hatten, zu insgesamt 96 Jahren Haft verurteilt worden waren. Anlaß zu den Protesten war ein Termin beim Revisionsgericht. Das hob das Urteil anschließend wegen Formfehlern auf. Der Prozeß wird neu aufgerollt.
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