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Vom Rollstuhl aufs Fahrrad

■ Mit leichten, schnellen und individuell angepaßten Modellen erobern sich Behinderte neue Möglichkeiten der Beweglichkeit. Nur die Krankenkassen stellen sich häufig noch quer

Sie fahren Ski, spielen Tennis, segeln, beweisen sich als eisenharte Triathleten oder fahren mit dem Fahrrad um die Welt. Gemeint sind Behinderte, sogar Schwerstbehinderte. Das sind derzeit acht Prozent der Bevölkerung, von denen die Hälfte allerdings das Rentenalter schon überschritten hat. Doch die Jüngeren werden immer aktiver, die Gleichung „Körperliches Handicap gleich Unbeweglichkeit“ geht schon lange nicht mehr auf.

Das hat mittlerweile auch die Industrie entdeckt und ihr Angebot an Hilfsmitteln entsprechend erweitert. Besonders vielfältig ist die Entwicklung im Bereich der Fahrradtechnik, denn hier ist auch die Nachfrage am größten. Heute gibt es für fast jeden Behinderten das passende Rad: Dreiräder für Menschen mit Gehbehinderungen und Gleichgewichtsstörungen, Tandems für Blinde, Spezialräder, die Rollstühle schieben oder sie auf Kufen transportieren. Außerdem eine Fülle an Zubehör, mit dem herkömmliche Fahrräder behindertengerecht umgebaut werden können.

Ralph Joho, Behindertenbeauftragter des ADFC (Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club), ist Dreiradexperte aus eigener Erfahrung. Er ist seit der Geburt halbseitig spastisch gelähmt und sitzt im Rollstuhl. Da er seine Beine noch bewegen kann, kann er auch radfahren. An seine ersten Versuche erinnert er sich nicht so gern: „Zum Auf- und Absteigen brauchte ich Hilfe, und beim Fahren mußte ich aufpassen, daß ich trotz der drei Räder nicht umkippe, weil der Schwerpunkt so hoch war.“

Es hat dann ein paar Jahre gedauert, bis er entdeckte, daß Radfahren auch Spaß machen kann. Ein Liegedreirad brachte den Durchbruch: Der niedrige Sitz ermöglicht ihm das selbständige Ein- und Aussteigen, die Lenkung kann er einhändig bedienen, zwei Blattfedern nehmen holprigen Straßen den Schüttelfaktor, und mit der Fünf-Gang- Nabenschaltung, deren Übersetzung genau auf ihn eingestellt ist, kann er endlich auf der Überholspur fahren.

Die Wahl des richtigen Rades ist nicht nur entscheidend für das persönliche Wohlbefinden, sondern auch für den therapeutischen Nutzen. Kompetente Beratung ist deshalb wichtig, und da beginnt die Schwierigkeit. Bisher wurden Behindertenräder fast ausschließlich über den Reha-Fachhandel und die Sanitätshäuser vertrieben. Wer da jedoch versucht, ein Liegedreirad mit einarmiger Lenkung zu bekommen, wird nur Kopfschütteln ernten. Mit dem inzwischen sehr komplexen Angebot scheinen die Reha-Fachleute überfordert zu sein.

Die Maschinenbauerin Carmen Brück hat sich selbst geholfen. Trotz Querschnittslähmung wollte sie auf das Radfahren nicht verzichten und konstruierte sich ein Liegedreirad, das sie mit eigener Muskelkraft bewegt, und zwar mit ihren gelähmten Beinen: Elektroden auf ihren Oberschenkeln übertragen Stromimpulse an die Muskeln und lösen dadurch Kontraktionen aus. Die Beine strecken sich und bewegen einen Linearantrieb, der die Räder in Bewegung setzt. Der Rücklauf erfolgt über eine Rückzugfeder.

„Der Akku reicht in der Regel für vier Stunden, aber das hängt sehr von der Witterung ab“, sagt die Konstrukteurin, die ihre Erfindung gerade in England auf einer Neuheiten-Messe vorgestellt hat. Anfänglich sei das Radfahren sehr ermüdend gewesen, aber inzwischen fährt Carmen Brück mit Rad und Anhänger sogar in den Campingurlaub.

Zur Zeit sucht sie einen Lizenznehmer für ihr Liegedreirad, Nachfragen von Behinderten gäbe es genug. Nur ist vielen der Preis zu hoch. „Das bewegt sich zwischen zwei- und zehntausend Mark, je nach Ausstattung“, sagt sie. Und das müßte wohl aus eigener Tasche bezahlt werden, denn bei der Abrechnung mit einer Privatperson stellen sich die Krankenkassen quer.

Es ist manchmal schon recht schwierig, die Kosten für ein ganz normales Behindertenrad von der Kasse erstattet zu bekommen. Das Prozedere schreibt vor, daß zuerst einmal der Arzt ein Fahrrad verordnet. In den Leistungskatalogen der Kassen werden Behindertenräder als Hilfsmittel geführt. Auf die hat ein Behinderter Anspruch, wenn sie medizinisch notwendig sind, es der allgemeinen sozialen Eingliederung förderlich ist, dadurch die Behinderung ausgeglichen wird oder die körperliche und geistige Beweglichkeit sowie das seelische Gleichgewicht verbessert werden (Sozialgesetzbuch 10 und 29, BSHG 39) Doch: All dies gilt nur, solange es sich nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens handelt.

Wer nun mit der ärztlichen Verordnung in der Tasche auf den nächsten Fahrradladen zusteuert, dem empfiehlt Bernd Faehrmann dringend, zuerst bei der Krankenkasse vorbeizugehen. Er ist beim Bundesverband der AOK Referent für Hilfsmittel und weist darauf hin, daß die Kassen nur mit Händlern zusammenarbeiten, die eine spezielle Zulassung haben. „Für Optiker gibt es klar definierte Kriterien, wenn sie für uns arbeiten wollen, aber für Zweiradmechaniker gibt es die nicht“, erklärt er.

Henning Oeljen, Zweiradmechanikermeister in Bremen, will sich gar nicht erst um die Zulassung bemühen. Er hat schon einige Spezialanfertigungen für Behinderte gebaut und dabei auch Erfahrungen mit Krankenkassen gesammelt. „Bis jetzt gab es da keine Schwierigkeiten. Ich habe eine ausführliche Expertise mit Zeichnungen und Kostenvoranschlag eingereicht, und sobald die Kasse grünes Licht gab, habe ich angefangen zu bauen“, erzählt er. Von den traditionellen hochbeinigen Dreirädern, die über den Reha- Handel vertrieben werden, hält er überhaupt nichts: „Die haben ein extrem schlechtes Fahrverhalten und sind zudem völlig überteuert. Da zahlt man wohl für das Gewicht.“ Gudrun Kaatz

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