: Von Platzhirschen und Protestanten
■ Wolfgang Kraushaar zeichnet in einer Studie das Verhältnis von Frankfurter Schule und Studentenbewegung nach
Wer in den letzten 15 Jahren Philosophie studierte, hat die gegenwärtigen Vertreter der „Frankfurter Schule“als Konservative kennengelernt: mausgraue Bewahrer von Pöstchen und Pfründen; akademische Platzhirsche, die jeden neuen Denkansatz als „irrational“oder „ästhetizistisch“verdammen; in der eigenen Theorie dabei blauäugige Freunde eines „zivilisierbaren Kapitalismus“, den man mit „moralphilosophischen Fundamenten“fügsam legitimieren möchte.
Aber dieses traurige Bild hat die Frankfurter Schule nicht immer geboten. Den einstigen Einfluß ihrer „Kritischen Theorie“auf die Studentenbewegung hat Wolfgang Kraushaar nun in einer „Protestchronik“rekonstruiert. Kraushaar, Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, ist Experte für verschüttetes kritisches Potential. Vor zwei Jahren hat er in seiner vielbeachteten Chronik „Gegen den Nierentisch-Mythos“die vergessenen Protestformen im Adenauerdeutschland ausgegraben: den Widerstand gegen die Wiederbewaffnung, die öffentlichen Forderungen nach Bestrafung der Naziverbrecher.
„Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail“heißt sein neues Buch, das heute im Literaturhaus im Rahmen einer Podiumsdiskussion vorgestellt wird. Mit der „Flaschenpost“ist die „Dialektik der Aufklärung“umschrieben: jenes philosophische Hauptwerk der Frankfurter Schule, das Theodor W. Adorno und Max Horkheimer Anfang der Vierziger im amerikanischen Exil verfaßt haben. Nach ihrer Rückkehr ins oberflächlich demokratisierte Nachkriegsdeutschland wurde das Buch zum Hauptbezugspunkt für die rebellierende intellektuelle Jugend. Für das Unbehagen am Wirtschaftswunder bot die tiefschwarze Zeitdiagnose einer umfassend ins „Katastrophische“kippenden kapitalistischen Kultur ein brauchbares Argumentenbrevier – zumal die Autoren, dank lebenslanger dialektischer Schulung, ihre Thesen bis zur Unangreifbarkeit geschliffen hatten. Aber die Beliebtheit hatte auch einen praktischen Grund: Die differenzierungslose Verdammung der „Zustände“legte als Widerstandsform einen fröhlichen Voluntarismus nahe. Gegen den „totalen Verblendungszusammenhang“des Kapitalismus mußte jede kleinschrittige Aktion notwendig läppisch wirken – wo kein pointierter Protest mehr helfe sei der individuelle Gewaltakt als Befreiungsgeste erlaubt.
Darum hat man die planlose Politik des „Molotowcocktails“, die von Spontis und – später – Leninisten gepflegt wurde, oft auch der intellektuellen Verwirrung durch die Adorno/Horkheimer-Lektüre zugeschrieben. Daß die „Kritische Theorie“eine Art Stichwort-Steinbruch für den linksradikalen Terrorismus in den Siebzigern gewesen sei: Die haben nicht zuletzt die Altnazis aus der CDU (Dregger, Filbinger) immer wieder herzustellen versucht, zweifellos auch, um von ihrer eigenen terroristischen Vergangenheit abzulenken.
Wolfgang Kraushaars Studie leistet hier Klärung. Sie zeichnet die Wechselwirkung zwischen Frankfurter Schule und Studentenbewegung in kurzen, chronologischen Einträgen nach. Dabei wird deutlich, wie die „Kritische Theorie“wenigstens einigen intellektuellen Köpfen im universitären Milieu das Rüstzeug für ihren militanten Antikapitalismus gab – und wie sich Adorno und Horkheimer, aber auch deren Kollegen Herbert Marcuse und Ernst Bloch, von den Ideen und Aktionen „ihrer“Studenten gleichsam notorisch distanzierten.
In einem Supplementband sind die wichtigsten Dokumente dieser Auseinandersetzung versammelt: bisher unveröffentlichte Briefe von Adorno und Horkheimer, frühe Zeitungsaufsätze ihres Schülers Jürgen Habermas, schließlich die umfangreiche Flugblattliteratur von SDS und diversen marxistischen Splittergrüppchen – bis zu Herbert Marcuses denkwürdiger Abbitte, kurz vor seinem Tod: „Ich habe niemals Terror gepredigt.“
Jens Balzer
heute abend: Diskussion mit Detlev Claussen, Bernd Rabehl, Michael Rutschky, Monika Steffen und Wolfgang Kraushaar (Moderation: Antonia Grunenberg); 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38
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