: Brasiliens Fußball lernt Deutsch
Nach dem 2:1 über das DFB-Team scheint klar, daß der umstrittene Trainer Mario Zagallo versuchen darf, den brasilianischen WM-Titel zu verteidigen ■ Aus Stuttgart Peter Unfried
Die Frage ist ja eigentlich weniger: Wird Brasilien wieder Fußballweltmeister? Sondern in Rio und um Rio herum eher bang: Besteht die Gefahr, daß Trainer Mario Zagallo dem Land nicht die penta, den fünften WM-Titel nach 1958, 1962, 1970 und 1994, beschert?
Nun, Zagallo (67) macht jetzt wieder einen ganz optimistischen Eindruck. Das 2:1 über die „große Mannschaft“ des DFB hat ihm Luft verschafft. „Besonders wichtig“ sei der Sieg gewesen, sagte er – als man ihn endlich ließ. Nimmt man den wunderbaren Tumult zum Maßstab, den die brasilianischen Medienschaffenden schufen, als etwas grellgelb Leuchtendes in den Saal kam, und potenziert ihn mit der Zahl der restlichen Fußballanhänger des Landes, bekommt man eine Ahnung von dieser Wichtigkeit. Der Trainer, obwohl schon auf einem Podest, mußte aufstehen, damit man seinen Kopf sah, der mächtig rot angelaufen war in der Kälte von Stuttgart.
Nachdem das Team zuletzt beim Gold-Cup im Dezember zweimal verloren hatte, hatte Ricardo Teixeira, der Präsident des brasilianischen Fußballverbandes (CBF), Zagallo den emeritierten Fußballhelden Zico (45) als „Technischen Direktor“ zur Seite gestellt und damit die Nachfolgefrage intensiviert. Zico schaut immer sehr ernst in die Gegend und redet gerne von der großen Verantwortung der Spieler und so weiter. Das Interessante ist: Das Team spielte in Stuttgart ein bißchen, wie er aussieht – ernst, fast verbissen, aber sehr zielstrebig. Auf den Tribünen schien man ein bißchen enttäuscht, weil auf die Brasilianer die alten, üblichen Vorurteile (Samba, Zauberei, Verspieltheit etc.) nicht mehr zutreffen. Aber das taten sie auch beim WM-Sieg 1994 nicht.
Zagallo redet in diesem Zusammenhang von der „deutschen Schule“. Sechsmal waren die Deutschen im WM-Finale, hat er nachgezählt, fünfmal nur die Brasilianer, obwohl die bekanntlich viel besser Fußball spielen können. Der Grund: „Einsatz und Taktik.“ Deshalb hat er sein Team Deutsch lernen lassen. Die Deutschen, hat Stürmer Ronaldo erfahren, spielten zwar „vielleicht keinen ansehnlichen Fußball“, dafür aber „immer zielorientiert“.
Besser kann man nicht beschreiben, was man nach den Eindrücken aus dem Neckarstadion von der seleçao erwarten kann. Zwei großgewachsene, fast englische Innenverteidiger (Aldair und Junior Baiano) versuchen kompromißlos abzuräumen, woran noch zu arbeiten ist, wie speziell Ulf Kirstens Treffer zeigte. Davor arbeitet eine vom zurückgekehrten Kapitän Dunga (34) organisierte Defensive am Primärziel, der Vermeidung von Gegentoren. Während das 1:0 zufällig fiel – oder eben deshalb, weil der Fleißarbeiter Cesar Sampaio nach Cafús Ecke besser rangelte als Heinrich –, entsprach der späte Siegtreffer exakt der Vorgabe Zagallos, „Deutschland abzuwarten und dann den Gegenangriff zu starten“.
Roberto Carlos (Real Madrid) erwischte Möller und das komplette DFB-Team in der Vorwärtsbewegung, spielte steil auf Ronaldo – und die Falle schnappte doch noch zu. Der extrem antrittsschnelle Stürmer darf wie Kollege Romario seine Kräfte dosiert einsetzen. Während der Held von 1994 im Moment aber extrem niedrig dosiert, ist Ronaldo in einer solchen Situation nicht mehr zu bremsen. Wusch, weg, rum um Köpke, drin. „Er hat eine Torchance und macht das Tor“, klagte Hauptgegenspieler Christian Wörns. Damit hat er eindeutig den Witz an Ronaldo erkannt.
Neben ihm den Paßgeber Roberto Carlos als einen der WM- Protagonisten zu prognostizieren, ist vermutlich auch kein schlechter Tip. Der Linksfuß arbeitet hart und bissig auf der linken Seite – kann aber dazu das entscheidende Extra einbringen. Das Stuttgarter Publikum erfreute er mit einem seiner berühmten 40-Meter-Freistöße. Daß für den Strategen Rai wie 1994 wieder kein Platz im Team sein wird, deutet sich an. Nach vier Jahren holte ihn Zagallo – oder Zico, wie es heißt – zwar in den Kader zurück, dann wurde er aber vom Trainer belehrt, daß eine „Nominierung noch keinen Einsatz bedeutet“. Gleiches gilt für Giovane Elber, der sich als einer von elf vor der Haupttribüne bloß warm laufen durfte, aber wenigstens vom A-Block erkannt wurde („Giovane, du Arschloch!“).
Das Team für Frankreich hat Zagallo „in meinem Kopf“. Wenn Ende April im nächsten Prestigematch gegen Argentinien nicht die Welt untergeht, bleibt er Trainer – und Elber eine ganz kleine Nummer. Wie im übrigen auch Kreativkraft Denilson (20), der aus dem Duell gegen Dietmar Hamann als der Unintelligentere hervorging. Für 53 Millionen Mark wechselt das große Talent demnächst nach Barcelona, in der Hierarchie der brasilianischen Medienkräfte steht er ziemlich weit hinten.
Zagallo, selbst fast 70, setzt auf Erfahrung. Das Siegerteam seines Vorgängers Parreira von 1994 hat er sehr behutsam renoviert. Das Durchschnittsalter der neuen WM-Truppe ist, Torhüter Taffarel (dann 32) ausgenommen, auf 28 angesetzt. Zu alt? Damit kann man hinkommen, vorausgesetzt, die Temperaturprognose des wetterfühligen Trainers (22 Grad Celsius) wird nicht wesentlich übertroffen. Wird Brasilien also Weltmeister? Italien, Frankreich, England und „Deutschland weiterhin“ sind „ernst zu nehmende Gegner“, sagt Zagallo. Brasilien „kann gewinnen, aber es wird hart“, schätzt Ronaldo. Tatsächlich gibt es bekanntlich nur ein Team, das seinen Titel je verteidigt hat: Brasilien. Das war 1962 – und obwohl Pelé verletzt war. Zagallo hat mitgespielt. Berauschend soll es nicht gewesen sein.
Brasilien: Taffarel – Cafu, Junior Baiano, Aldair, Roberto Carlos – Cesar Sampaio, Dunga – Rivaldo, Denilson (80. Doriva) – Romario (80. Bebeto), Ronaldo
Zuschauer: 52.800; Tore: 0:1 Cesar Sampaio (27.), 1:1 Kirsten (65.), 1:2 Ronaldo (88.)
Gelb-Rote Karte: Dunga (57.) wegen wiederholten Foulspiels
Rote Karte: Kohler( 35.) wegen groben Foulspiels
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