Das Veto ist die letzte Notbremse

Fünfzehn Jahre in einer Wohngemeinschaft: Einen Geschirrspüler gibt es und einen eingespielten Wochenplan, und anders beantwortet wird der Anspruch, „einander zu tragen“  ■ Von Jens Rübsam

Irgendwie sieht es so aus, als sei es nie anders gewesen. Sie sitzen an dem langen Holztisch in der Wohnküche, trinken Rotwein und Wasser, rauchen und debattieren bis tief in die Nacht. Über Grundsatzfragen einer Groß-WG: Braucht es einen politischen Grundkonsens, um gemeinsam leben zu können? Oder reicht Sympathie? Wer darf einziehen? Und wer nicht? Jüngere Leute? Oder nur noch Gleichaltrige? Sozialfälle? Oder nur noch welche, die ihr Leben im Griff haben?

Doch nach 15 Jahren sind Abende wie dieser selten geworden in der Weddinger Groß-WG mit 19 Erwachsenen und 12 Kindern auf vier Etagen. „Zorrow“, so haben die ehemaligen Hausbesetzer aus Charlottenburg ihr Wohnprojekt genannt, ist erwachsen geworden. Erich, Leh und Wolle leben seit 1983 hier, sind heute um die 40 und haben, wie es so schön heißt, eine gesicherte Existenz. Erich ist Sozialarbeiter. Leh arbeitet in einem Kreuzberger Bildarchiv. Wolle ist Umwelttechniker. Marion kam 1986 in die Grüntaler Straße. Sie ist 36 und Sonderschullehrerin. Sie sind abgesichert. Sie haben sich eingerichtet in der Gesellschaft. Die eine mehr, der andere weniger. Ein wenig mehr Marion, die, wenn es um Einzugsentscheidungen geht, deutlich sagt: „Ich kann und will hier keine Sozialarbeit leisten.“ Weniger Leh, der immer noch der Autonome ist, jetzt freilich „Alt-Autonomer“. Er befürchtet, daß das „Haus immer beliebiger wird“. Weg vom linken Wohnprojekt mit politischem Anspruch. Hin zur Individualisierung und zum Sicherheitsdenken.

Dabei war es gerade das, was die ehemaligen Hausbesetzer aus Charlottenburg 1983 nicht wollten, als sie das Abrißhaus im Wedding übernahmen. Sie wollten sich Freiräume schaffen gegen den üblichen Individualisierungsdruck und gegen den Konsumzwang. „Einen Traum vom besseren Leben verwirklichen“, hat Leh im Kommunebuch geschrieben, „Sofort. Kompromißlos. Anarchistisch.“ Sie schafften das auch.

Sie rekonstruierten das Hinterhaus in der Grüntaler Straße 38, malten es bunt an, dreißig Leute zogen ein. Sie wurden ein Anlaufpunkt für Linke im Wedding, eine Szene wie in Kreuzberg gab es nicht. Dafür Rechtsradikale gleich um die Ecke. Wenn sie gefragt wurden, wo sie wohnen, sagten sie abwechselnd „Insel“ oder „Wüste“ oder „hart an der Grenze“, die DDR war in Steinwurfnähe. So hielten sie durch – bis der erste Einschnitt kam: die große Kinderwelle. Dann der zweite: Leute aus der „Kerngruppe“ zogen aus. Und dann der dritte: Die Lethargie der Gesellschaft und die Politikverdrossenheit krochen schleichend ins Haus. Da gab es keine Kiezküche mehr. Wurde die Fahrradwerkstatt nicht mehr von den Kiezbewohnern genutzt. Waren die Versammlungen ausgeblieben. Und die Demovorbereitungen. Was geblieben ist, sind Erinnerungen in Worten und auf Bildern. Heute hört sich das so an: „Wir wollten uns damals einbringen in die linken Strukturen des Stadtteils.“ Oder: „1,50 Mark hat die Suppe gekostet.“ Oder: „Der Antifa-Aufbruch Anfang der 90er Jahre war nicht unser Aufbruch.“ Oder: „Früher war bei uns mehr Spontaneität in jeglicher Richtung vorhanden.“ Das klingt alles ein wenig wehmütig und nostalgisch und zynisch, aber nicht nachtrauernd der Entscheidung, ob nun bewußt oder unbewußt gefällt, sich zurückgezogen zu haben aus politischen Aktivitäten. Uwe, der vor zwei Jahren ausgezogen ist, macht die Entwicklung der WG an drei Punkten fest: keine Orientierung mehr auf kommunitäres Zusammenleben, Schauen auf Beruf und Kinder. „Faktisch ist bei Zorrow jede Weiterentwicklung ein zähes Ringen zwischen konservierendem Sicherheitsbedürfnis und lustvollen anarchischen Vorstößen, Abgrenzung und Einmischung.“

Geblieben sind die offenen Etagen ohne geschlossene Türen. Geblieben sind auch in der Weddinger Groß-WG bis heute kommuneähnliche Errungenschaften wie das wöchentliche Plenum. Jeden Montag sitzt die WG zusammen und diskutiert, vor allem anstehende Fragen, soziale, materielle und ökonomische, das sind Einzugsbewerbungen und bauliche Veränderungen. Nicht mehr diskutiert werden politische Visionen. Nicht linke Widersprüchlichkeiten. Als die Studenten Ende vergangenen Jahres auf die Straße gingen, war das kein Thema am Tisch in der Wohnküche. Was seine Ursache wohl hauptsächlich darin hat, daß keine Studenten mehr in der WG leben. Wer nicht selbst betroffen ist...

Das Zorrow-Plenum ist heute nicht mehr als ein Entscheidungsgremium für Alltagsprobleme geworden. Gilt es wichtige Entscheidungen zu treffen, wird eine Woche Bedenkzeit gegeben. Es besteht ein Vetoprinzip, quasi die Notbremse, um noch einmal miteinander reden zu können. In jüngster Zeit wurde es vor allem angewandt bei Einzugsfragen.

Geblieben sind Errungenschaften wie die gemeinsame Haushaltskasse. 50 Mark pro Woche zahlt jeder für Essen, 60 Mark pro Monat für Getränke, Wendlandgemüse, Kaffee etc. Die Miete ist einkommensabhängig. Jeder zahlt 20 Prozent des Gehaltes. Das sind die großen Spielregeln in der Weddinger Groß-WG. Die kleinen sind: Nicht rauchen in der Wohnküche vor 12 Uhr mittags. Keinen Kaffee kochen in der Teekanne. Plenumsbuch zum Nachlesen führen. Am Dienstag kauft Erich ein. Am Freitag Leh. An der Pinnwand hängt ein Haushaltsplan, früher noch strikt unterteilt in Männer- und Frauenwoche. Heute werden Tagesdienste eingetragen. Seit acht Jahren gibt es eine Spülmaschine, heftig umstritten und endlos debattiert und letztlich mit Ja entscheiden. Weil, so das Argument, bei einer WG mit dreißig Menschen Geschirr en masse anfällt. Da hatte der praktische Nutzen eben mal wieder das verächtliche Symbol besiegt. Leh wäscht dennoch gern ab, per Hand, „weil beim Abwaschen eine gewisse Atmosphäre entsteht“.

Die schwankt an diesem Abend bei Rotwein und Wasser zwischen Glückseligkeit und Zerrissenheit. Wenn Wolle, der Gutmütige, von den Qualitäten der Groß-WG erzählt, hören die anderen still zu, zufrieden dreinschauend. Vom sozialen Netz in der WG spricht Wolle. Vom Redenkönnen mit jedem, wenn auch nicht jeder mit jedem kann. Vom Garten hinterm Haus. Von der Bibliothek. Vom Fotolabor. Von der Werkstatt. Vom Veranstaltungsraum. Vom neuen Kinderzimmer, das mal eine Speisekammer war. Alles selbst geschaffen.

Wenn Marion und Leh streiten, mischen sich die anderen ein, und zwar lautstark. Schließlich geht es um die Substanz der WG. Um die „politische Einsamkeit“, wie Leh sagt. Weil hier „der Lebensstil dominiert“ und „das Sicherheitsdenken eingezogen ist“. Was Stefan, den Neuen aus der Mariannenstraße, herausfordert: „Politische Einsamkeit, das sind total harte Worte.“ Auch Stefan kommt aus der linksradikalen Szene.

Marion bleibt dabei: Geht es um Leute, die neu einziehen wollen, entscheidet sie nach Sympathie. Ihr geht es um die Integration in die Gruppe und darum, ob sie einen Draht zu den Leuten findet. Wolle mischt sich ein, scherzhaft: „Sympathie ist die Einstiegsdroge.“ Wolle ist der Vermittler zwischen den beiden, seit Jahren. Aber im Moment nützt das nichts.

Denn jetzt wird der Fall „Cora und ihre Freundin“ aufgewühlt. Cora ist zwanzig, sie kam mit ihrer Mutter in die WG, da war sie elf. Inzwischen ist die Mutter ausgezogen, Cora ist geblieben, ist eine richtige „Zorra“ geworden, zu alt für die WG-Kinder, zu jung für die älteren. Als sie ihre Freundin in der WG unterbringen wollte, knallte es. Die einen wähnten in Coras Freundin einen Sozialfall, sie war jung und schwanger, die anderen sprachen von Ausgrenzung. Sollte nicht gerade diese WG fähig zur Integration sein? Marion betont: „Ich habe schon den Anspruch, daß wir einander tragen. Aber ich habe nicht den Anspruch, Sozialarbeit zu leisten.“ Bürgerlich-intellektuell contra proletarisch? Dafür könnte sprechen, daß es Zorrow in den 15 Jahren nicht geschafft hat, sich in den Kiez zu integrieren. Sie leben fast isoliert von der Nachbarschaft. „Guten Tag und guten Weg“ zu den Mietern im Vorderhaus. Mehr nicht.

Uwe hat vor zwei Jahren die WG verlassen, weil Gabi, seine Freundin, hier nicht einziehen wollte. „Sie konnte nicht verstehen, wie wir miteinander umgehen.“ Distanziert reden. Immer vernüftig sein. Nicht mal schreien. Nicht mal Emotionen zeigen. Er wohnt jetzt mit Gabi zusammen. Arbeitet aber daran, eine Kommune zu gründen. Irgendwie auf dem Land, vielleicht in Ostdeutschland. „Aber es ist schwer, Leute zu finden.“ Schon 1994 hat Uwe „alarmierende Zeichen für innerstädtische WG-Auflösungen ausgemacht“ – einerseits bedingt durch großflächige Auflösungen von Gewerbemietverträgen und somit Auflösungen der bewohnten Fabriketagen und -gebäude, andererseits durch fehlendes Interesse von Jugendlichen an WGs.

Noch immer sind Marion und Leh bei „Cora und ihrer Freundin“. Stellte sich doch in diesem Zusammenhang noch eine ganz andere Frage: die Generationsfrage. Jüngere Leute in die WG lassen? Marion hat „einfach nicht das Bedürfnis, daß junge Leute hier einziehen“. Leh hat das schon. Er hat es in die Frage gepreßt: „Wann verwandeln sich ehemals besetzte Räume und Häuser in erstarrte privilegierte Ghettos?“