: Brennpunkte
Allerlei Ansichten des Peripheren ■ Von Gabriele Goettle
„Überhaupt werde ich den Verdacht nicht los, daß einer schon ein Kerl sein muß, wenn ihn das heutige Leben zu Fall bringt.“ Karl Kraus
Monatsende. Die Barschaften sind längst verbraucht. Vor der Südsternkirche versammeln sich die Parias. Es herrscht leichte Erregung und etwas Gedränge. Dünn gedrehte Zigaretten gehen von Hand zu Hand bis die Glut den Fingernagel sengt. Wer noch ein Bier besitzt, trinkt es heimlich. Außer den ständigen Besuchern kommen auch Fremde, die sich scheu durch die Menge direkt in die Kirche begeben. Eine alte Frau mit Pagenfrisur und roten Backen rollt ihr abgeschabtes Einkaufswägelchen die Treppe herauf. Es ist Martha. Sie ist arm, klein, aus der Pfalz, und trägt zur Strickjacke einen Rock über der Hose. Sie sagt „Grüß Gott“ und sieht aus, als würde sie gleich ihren Gemüsegarten umgraben. Erwin, mit wirrer Igelfrisur, bekümmerter Miene, runzelig, krumm und mager, zupft mich begrüßend am Ärmel und schimpft „auf die ollen Spinner, die immer beten“. Ein dünner Drogensüchtiger in schwarzer Lederjacke springt die Treppen hinunter, öffnet seinen Hosenschlitz und tritt ins Gebüsch. Seine sehr junge Freundin ruft ihm nach: „Aber paß uff, Atze, daß de dir nich wieder allet an die Hose ranspritzt.“
Zur Erklärung deutet sie den Umstehenden mit Daumen und Zeigefinger zwei Zentimeter an und sagt: „Der hat nur so nen Kleenen, na wat soll er machen!“ Niemand lacht. Ein Mann mit dem Spitznamen Kugelblitz erscheint und zieht sich am Geländer die Treppen herauf. Mit seinem schönen süditalienischen Gesicht und den balancierenden Händen sieht er aus wie ein Stehaufmännchen aus den 20er Jahren. Er geht sofort hinein. Ihm folgt die weißhaarige Frau aus Friedrichshain, die ihre Mietschulden nicht bezahlen kann und sich die DDR zurückwünscht. An der Leine trottet der zottige Mischlingshund, den sie vor dem Tierheim gerettet hat. Er pflegt durch lautes Seufzen den Gottesdienst zu stören, zwischendurch legt er sich auf den Teppich und schläft. Ein magerer alter Mann mit schmutziger Hose, ungekämmt und unrasiert, erzählt einem Bärtigen entrüstet, daß das beheizte Klohäuschen, in dem er seit Jahren die kalten Nächte verbringt, demnächst aus Ersparnisgründen geschlossen und abgerissen werden soll: „Ich sage dir, Berlin is so pleite, die können sich nich mal ein Scheißhaus leisten. Und det soll nu 'ne Hauptstadt sein!“
Horst und Angelika stehn plötzlich neben mir, nach der Trennung offensichtlich frisch vereint. Horst hat einen leichten Tremor und eine Wunde an der Braue, Angelika lehnt neben ihm eingehängt in seinen Arm. Das Zerwürfnis hat seine Spuren hinterlassen an den beiden. Nachdem Horst wegen des Nebenbuhlers aus der gemeinsamen Wohnung zuerst ins Männerheim für Obdachlose und dann in eine neugefundene kleine Wohnung gezogen war, wurde Angelika vom Galan dreimal zusammengeschlagen und versuchte, darüber zerknirscht, zu Horst zurückzukehren, was zuletzt auch gelang. Nun wohnen sie beide – unter Hinterlassung des Galans in der alten Wohnung, samt aller Möbel – in einer spärlich eingerichteten kleineren, dafür aber helleren und sonnigen Wohnung.
Sie hat ihre Arbeit im „Museum für Verkehr und Technik“ über den zeitraubenden Eskapaden verloren. Er arbeitet bei der Stadt: „Gartenbauamt und Umweltschutz“, sagt er gelassen, „ich fahre mit meiner Brigade morgens los, bis raus nach Köpenick, wir beschneiden die Bäume, das will gelernt sein. Ich bin so eine Art Vorarbeiter. Das Holz nehm' ich gleich von der Arbeit mit nach Hause, wir haben ja jetzt Ofenheizung, drum ist die Miete auch nur 480 Mark. Die andere Wohnung kostete uns 600 Mark. Denke mal, das finstere Loch, und warm wurde die Heizung auch nie. Na, so hat die Sache wenigstens ein Gutes: Wir sind endlich in einer Wohnung mit Sonne! Auf normalem Weg wären wir nie aus dem Hinterhof dort rausgekommen.“ Angelika sagt lachend und ohne Vorderzähne: „Dafür laß ich mich doch gern dreimal zusammenschlagen, das lohnt sich regelrecht. Komm uns mal besuchen, ich bin ja nun zu Hause, tagsüber.“ Sie umarmen sich und folgen den anderen in die Kirche, obwohl noch Gottesdienst abgehalten wird und man bis zur Eröffnung des Frühstücks eine Weile wird warten müssen.
Für einen Moment ist der Vorplatz menschenleer. Der Autoverkehr tost im Rhythmus der Ampelphasen vorbei. Mittendrin ein Fahrzeug mit der Werbeaufschrift: „Schädlingsbekämpfung – Dachrinnenreinigung – Taubenvergrämung“. Hier klingt es wie dunkle Prophezeiung. Ein junger, schlanker Mann mit wehendem blaugrauen Mantel nähert sich und kommt schnellen Schrittes die Treppe herauf. Sein Gesicht ist von vernarbten Verbrennungen entstellt. Stirn, Nase, Wangen, Lippen, Kinn, Teile des Halses und der Ohren sind überspannt mit knotig aneinanderhängenden Hautteilen in verschiedenen Rottönen; von leichtem Violett bis fast ins Weiße gehend. Das Haar trägt der Mann kurz rasiert. Die Kopfhaut scheint weitgehend unbeschädigt geblieben zu sein. Er wendet sich mir zu, mustert mich mit unversehrten blauen Augen und streckt mir eine Bierbüchse entgegen mit den Worten: „Kannste mal aufmachen... Bitte!“ Er hält sie zangenartig mit Daumen und Zeigefinge umklammert. Die Finger sind kaum noch als solche erkennbar, wirken wie zwei übriggebliebene Äste an einem verbrannten Baum. An der anderen Hand, die er mir demonstrativ vor Augen führt, ist keinerlei Fingerrest mehr vorhanden, nur noch eine handtellerförmige, dunkelrot vernarbte Fortsetzung des Handgelenkes. Ich öffne die Bierbüchse und reiche sie ihm. Er sagt: „Der erste Schluck ist für dich... Weil du mir geholfen hast.“ Ich lehne dankend ab. „Ach was, zu früh!“ knurrt er verächtlich und trinkt mit zurückgelegtem Kopf in langen Schlucken, dann wischt er sich mit dem Ärmel über die Lippen und sagt: „Übrigens... Das Bier hier habe ich grade mitgeh'n lassen im Supermarkt.“
Er spricht in einem eigenartigen Rhythmus, macht Pausen zwischen den Satzteilen und erhöht so die Wirkung des Gesagten. „Ich hab's einfach rausgetragen... Ganz offen... Und du... die haben zugeguckt, keiner hat gewagt, was zu sagen... So ist es jedesmal.“ Ich frage ihn, wie es zu seinen Verbrennungen kam und er antwortet: „Gasexplosion“. „Ein Unfall?“ frage ich, und er sagt halblaut und lakonisch: „Selbstmord. Der Unfall war... Daß ich ihn überlebt habe. Pech... Ich überlebe immer. Das war mein vierzehnter Selbstmordversuch. Ich war drei Jahre in der Psychiatrie und... Ich hab' einen Freifahrtschein – weißt du, was das ist? Ich bin nicht zurechnungsfähig – ich hab den 63er Paragraphen. Nummer vierzehn... Der klappte auch nicht, das hat mich 'ne Menge gekostet. Jedesmal werd' ich weniger... Aber was soll ich denn noch machen? Es war Erdgas... Nach einer Weile, die ganze Wohnung war bereits gesättigt... Mit Gas – es war Samstag und alle Mieter waren zu Hause – da hab' ich mir 'ne Zigarette angemacht. Es sind zwei Wände weggeflogen... Aber keiner von den Mietern wurde verletzt! Heute ist die Wohnung wieder voll bewohnbar... Aber nicht von mir, ich lebe in einem Heim.“ Etwas abseits steht seit einiger Zeit ein tätowierter Mann und raucht. Der Verbrannte fragt ihn: „Du Kumpel... Ach bitte, ich muß was Rauchen, gibste mir 'ne Kippe?“ Der Tätowierte reicht ihm ein Tabakspäckchen: „Dreh dir eine.“ „Ja wie denn!“ ruft der Verbrannte zornig und fuchtelt mit den Armen. Wenig später raucht er in tiefen Zügen und erzählt weiter: „Ich kam mit Verbrennungen dritten Grades an... Auf der Intensivstation... Vierzig Prozent meiner Haut verbrannt... Und mehr. Ewig mußte ich dort bleiben, auf der Intensivstation... Monatelang. Sie haben mir das Leben gerettet, leider... Damit haben sie der Menschheit sicher keinen Gefallen getan... Ich werde immer schlimmer. Ganz schlimm werde ich, wenn ich Schnaps getrunken habe... Da kenne ich mich nicht mehr, wenn einer mir blöd kommt, mich bedroht... Den niete ich um, den räume ich aus dem Weg. Eines Tages bringe ich das zu Ende... Und das wird ziemlich krass werden... So ist das bei mir, wie du siehst.“
Er wirft die leere Bierbüchse Richtung Papierkorb und trifft elegant, trotz einiger Entfernung. Den Triumph darüber läßt er ausfallen. Ich frage: „Was war denn der Grund?“ und erwarte, daß er so was wie Schulden oder Liebeskummer nennen wird, er blickt mich durch die Augenschlitze seines maskenhaft starren Gesichtes
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ruhig an und sagt ohne jedes Pathos: „Es war die Einsamkeit.“ Der Verkehr braust hinter uns vorbei und verschluckt das Gurren der Tauben im Baum, ein Radfahrer mit einem Anhänger voll blühender Zweige fährt vorbei. „Ich fühl' mich immer so... Total einsam... Auch jetzt, wo ich mit dir spreche, die ganze Zeit. Und das geht nicht weg... Im Gegenteil. Aber jetzt... Nach meiner Explosion“, (er lacht) „habe ich endlich einen... Einen echten Grund, einsam zu sein... und zu bleiben. Von Frauen red' ich gar nicht...“ Er lacht entnervt und blickt an sich hinunter: „Dabei haben ich mich heute extra feingemacht, fürs Sozialamt.“ Er deutet auf eine vom nackten Hals hängende Krawatte, die über eine camouflageartig gefleckte Weste fällt, darüber trägt er einen dunkelblauen leichten Anzug, der ein wenig weit zu sein scheint. „Die Combination ist ungewöhnlich... Aber cool“, sagt er zufrieden und fügt hinzu: „Ich verrate dir was... Ich probiere jetzt richtiggehend alles aus... ... Was so an Reaktionen kommt – bei mir wird ja jeder zum Privatmenschen, auch die aus den oberen Etagen vom Amt, früher waren sie die reinsten Bürokraten, heute haben sie Angst. Das ist wie ein Spiel... Ich spiele es auf den Straßen und überall. Neulich sind sogar drei Skins in den nächsten U-Bahn-Wagen gewechselt. Na, laß uns reingehn, frühstücken.“
Der Antiquar und der elsässische Kirchenmaler sitzen am gewohnten Tisch und haben mir einen Platz freigehalten. Auch die zahnlose Mutter ist da, und der vormals obdachlose Peter. Er will mir heute das Heim für obdachlose Männer zeigen, in dem er nun wohnt. Er sieht, seit er Obdach hat, anders aus als früher. Teils wirkt er selbstbewußter, geht zielstrebig und ist besser gekleidet. Das Demütige ist gewichen. Er sieht fast würdevoll aus, wie Kaiser Franz Josef von Österreich. Teils aber wirkt er gebeugt, von der Last der Verantwortung, den täglichen Sorgen der Seßhaftigkeit. Stolz repräsentiert er Personalausweis und Sicherheitsschlüssel: „Ehrlich! Schön ist schon, daß ich einfach sagen kann, ich geh jetzt nach Hause. Dann gehe ich nach Hause und hab' da meinen eigenen Schlüssel in der Tasche.“ Peter will nicht frühstücken, er hat genug zu Hause, er will einfach nur zugucken. Die anderen allerdings sind ziemlich ausgehungert. Ruckzuck sind die Wurst- und Käseteller geleert, die Brötchen und Brote verzehrt. Die Margarinebecher werden anklagend hochgehalten, damit man sie nachfüllt. Harte Eier werden ausgeteilt, Brötchen, Wurst und Käse herbeigebracht. Die zahnlose Mutter erklärt, sie müsse auf ihren Cholesterinspiegel achten. Deshalb will sie das Weiße vom Ei nicht essen. Nur das Gelbe. Der Nachbar nimmt ihr kommentarlos das Übriggebliebene ab. Das Eigelb schneidet sie auf einem Tellerchen in Scheiben und legt es aufs Brot. „Außerdem“, sagt die zahnlose Mutter, „hat die Ärztin mir Ruhe verordnet und regelmäßijet Essen, aber ihr seht's ja, hier verhungert man über die ewje Beterei.“
Der Antiquar schenkt mir galant Tee ein und sagt: „Ihr habt mir doch versprochen, daß wir zusammen in die Brecht-Ausstellung gehen! Mittwochs ist der Eintritt frei in der Akademie der Künste, gehn wir doch nächsten Mittwoch, das ist die letzte Gelegenheit.“ Elisabeth und ich nicken ergeben. Frédéric der Kirchenmaler will nicht mit. „Erstens, ich kann nicht so lange stehen, zweitens, ich hasse Personenkult.“ „Das ist interessant!“ ruft der Antiquar und fügt, aus dem Konzept gebracht, hinzu: „Ach ja, das wißt ihr noch nicht, jemand ist in der Nacht nach dem Brechtgeburtstag über die Mauer in den Dorotheenstädtischen Friedhof gestiegen und hat das Kästchen Havannazigarren vom Grab geklaut.“ „Die möchte ich gar nicht haben“, sagt der Kirchenmaler übellaunig, und der Antiquar erklärt: „Er hat zwischen den Bücherspenden in der andern Kirche ein dickes Gesetzbuch gefunden, das hat er die ganz Nacht über studiert, weil er doch Angst hat vor dem Gerichtstermin.“ „Nein, vor einer Pfändung!“ korrigiert Frédéric. Der Antiquar beißt in sein Käsebrötchen und brummt teilnahmsvoll: „Und dann hat er noch den „Stillen Don“ mitgenommen, vier Bände. Die hätte er lieber lesen sollen, um das Juristische kümmert sich doch der Rechtsanwalt.“ „Der ist ein Idiot!“ ruft Frédéric aus und geht, um draußen ein Zigarillo zu rauchen. „Und ich“, sagt der Antiquar, habe was von Hölderlin und die Jungfrau von Orléans gefunden.“ „Icke“, sprudelt die zahnlose Mutter hervor, „habe wieder ma nüscht jefunden. Da war doch son Zettel dort anjebracht, daß eener nen Spiejelschrank zu verschenken hat, weeste? Ick hab mir jemeldet, ick brauch ja so 'nen Schrank, für mich und mein Kleenen, für die janzen Klamotten, aber so'n oller Penner hat mir den vor der Neese wegjeschnappt. Da kannste wieder mal sehn, wie doof ick bin.“ Mißmutig tupft sie die Krümel des Eigelbs vom Teller auf.
Zwischen all den Sitzenden sehe ich den dunklen Mantel des Verbrannten. Der Mann spricht nacheinander die beschäftigten Helfer an, die ihn irritiert einander weiterreichen, bis er am Ende mit Pastor Paule in den Stuhlreihen vor dem Altar sitzt und lange mit ihm redet. Eine Frau, Mitte Dreißig, mit kurzen dunklen Haaren, in Jeans und Pullover, setzt sich auf den freigewordenen Stuhl neben die zahnlose Mutter und klagt: „Menschenskind, ich hab' so 'ne Angst!“ „Wat iss'n?“ fragt die zahnlose Mutter mäßig bekümmert, und die Dunkle fährt fort: „Ich muß in die Klinik nachher. Halb zwölf ist mein Termin, ich komm' jetzt schon zu spät, aber ich trau' mich nicht. Letzte Woche war ich dort, am Wochenende, mit schrecklichen Unterleibskrämpfen, da ham sie gar nichts gemacht und mich wieder nach Hause geschickt, mit 'ner Tablette. Heute soll ich untersucht werden – unter Narkose – wer weiß, ob ich davon noch mal aufwache?“ „Und wenn du nicht mehr aufwachst, dann weißt du ja nicht, daß du nich mehr aufgewacht bist...“ ruft der Antiquar lüstern aus. „Halt's Maul, Arschloch! Das hier sind Frauensachen!“ zischt die Dunkle und sagt – während der Antiquar etwas errötet – zur zahnlosen Mutter: „Das kommt bei mir alles daher, weil, als ich das erste Baby bekommen habe, die Gebärmutter schwer verletzt worden ist bei der Geburt...“ „Ick hatte och 'ne schwere Jeburt mit mein Kleenen“, sagt die zahnlose Mutter kühl. „Vielleicht ist das alles nicht so richtig geheilt, wer weiß, deshalb blutet es und krampft. Ach nee, das is alles nichts! Mir ist schon ganz schlecht vor Angst“, fährt die Dunkle fort. „Nu mach dir man keene Sorjen“, sagt die zahnlose Mutter matt, „je eher du jehst, um so eher biste fertig.“ Der Kirchenmaler kommt zurück und blickt mit gerunzelter Stirn auf seinen besetzten Platz. Das beschleunigt den Aufbruch der Dunklen. Nur der Antiquar winkt ihr zum Abschied zu und sagt: „Mach's gut!“ Auch für mich wird es Zeit zu gehen, Peter steht schon am Ausgang und wartet.
Wir fahren eine Station mit der U-Bahn. Peter hat nun eine Monatskarte und beklagt, daß, seit er sie hat, nicht eine einzige Kontrolle kam, während sie ihn vorher unentwegt verfolgt haben, so daß er mit seinen abgefrorenen Zehen lieber weite Strecken zu Fuß ging, als sich schnappen zu lassen. Am Ausgang Gneisenaustraße sitzt oben eine junge Bettlerin. „Die ist drogensüchtig“, erklärt Peter verhalten, „wenn se genug zusammenhat, geht sie rüber zur Markthalle, was essen. Ich kenn' die alle.“ Wir gehen eine Weile Richtung Mehringdamm. Ein kalter Wind bläst uns entgegen, eine Schar türkischer Schulkinder hüpft auf einem Sofa herum, das als Sperrmüll am Straßenrand abgestellt wurde. Schon bald sind wir angekommen. Das Obdachlosenwohnheim für Männer ist in einem neueren, zweistöckigen Flachbau untergebracht. Peter wartet, bis sich die Haustür hinter einem herauskommenden Mann geschlossen hat, dann tritt er vor, zückt seinen Schlüssel, öffnet und läßt mir den Vortritt. Oben im Flur bittet er mich, einen Moment Platz zu nehmen, will nur eben im Büro Bescheid sagen. Er verschwindet. Auf dem Flur herrscht ein geschäftiges Hin und Her. Einige der Vorbeigehenden kenne ich, es sind Helfer aus der Heilig- Kreuz-Kirche an der Blücherstraße, ich sah sie zum letzten Mal bei der Weihnachtsfeier. Peter kehrt zurück, in Begleitung von Pfarrer Achim. Dieser Pfarrer ist ein merkwürdiger Kauz. Der einzige, in dessen Suppenküche auch noch die wildesten Punks, samt Gepäck und Hunden, willkommen sind, der Speise und Trank ohne Beterei austeilt, der ein vegetarisches Essen zur Wahl anbietet. Er ist kein besserwisserischer smarter Gottesmann, kein guter Kumpel, eher ein schüchterner, etwas zerstreuter, seltsamer Grübler und Tüftler. Heute hat er keine Rüschschürze an. Er begrüßt mich freundlich, gestattet, daß ich mir alles in Ruhe ansehe, und schon wird er ins Büro zurückgerufen. Mit einem: „Wenn Sie noch irgendwelche Fragen haben... Sie finden mich hier“, eilt er davon.
„Ich kann dir auch das Wichtigste erzählen“, sagt Peter und führt mich im Erdgeschoß herum, „das war hier mal das Gemeindehaus, bevor sie die ganzen Büros und Säle in die alte Kirche reingebaut haben. So, und hier ist unsere Küche. Alles da, Herd, Kühlschrank, alles. Da können wir uns was machen, wenn wir Lust haben, was Warmes. Oben ist noch mal ein Kühlschrank und 'ne kleine Teeküche. Zeig' ich dir anschließend. Und das, nebenan, ist unser Gemeinschaftsraum.“ Der große Raum ist hell. Aschenbecher stehen auf den Tischen. Die Musik dudelt aus dem Radio, aber kein Mensch ist anwesend. Peter deutet auf die Sessel, die Gardinen vor den Fenstern, die Pflanzen, das Fernsehgerät und die alte Musiktruhe aus den 60er Jahren mit beleuchtetem Plattenspielerabteil, und sagt, nicht ohne einen Anflug von Besitzerstolz: „Ist doch gut hier? Ist doch alles da, was der Mensch so brauchen tut! Na, ich ja nicht so – ich hab's ja lang genug bewiesen, aber gemütlich isses doch, so am Abend...“
Eine der herumschwirrenden haupt- und ehrenamtlichen Helferinnen begrüßt den Peter im Vorbeieilen: „Tag Peter, schön, daß du Besuch hast“, und zu mir gewandt, „kommen Sie doch anschließend, wenn Sie Lust haben, auf unserem Trödelbasar vorbei. Ich habe da auch einen Stand, wissen Sie, da verkaufe ich die Reste aus meinem eingegangenen Naturkostgeschäft, das ich in Potsdam hatte, ja, ja, es ist alles nicht so einfach.“ Nachdem sie enteilt ist, erklärt Peter: „Ach der Trödel, das sind lauter alte Sachen, gespendetes Zeug, das wird da verkauft. Ich zeig' dir alles nachher. Aber guck mal hier, da ist ein Plan, was es alles so gibt für uns: Yoga... Gymnastik ist ja was Schönes, aber ich kann nicht mitmachen bei so was, ich kann ja mein Kreuze kaum bewegen. So, nun zeig' ich dir die obere Etage.“ Wir steigen die Treppen hinauf und kommen in einen geräumigen Flur, in dem die bereits erwähnte Teeküche in Form eines Spülbeckens und einer Kaffeemaschine steht sowie der Kühlschrank, den mir Peter sofort präsentiert: „Hier, schau ruhig rein, das ist meine Butter, mein Käse, meine Wurst... und hier hab' ich noch zwei Wiener. Das schaff' ich ja gar nicht alles, das viele Essen. Unten ist auch noch was. Und hier, guck, sind die Toiletten und Duschen. Alles sauber!“ Er zeigt in einen weißgekachelten Raum, in
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dem auch zwei Waschmaschinen stehen. „Die kosten nichts“, erklärt Peter freudig, der weiß, daß Wäschewaschen in den Obdachloseneinrichtungen meist zwischen einsfünfzig und zwei Mark kostet, „sogar Waschpulver is' gratis, Klopapier! Immer ist alles da, es ist kaum zu glauben.“ Er blickt mit tragischem Gesichtsausdruck auf die sanitäre Pracht und lehnt sich gegen den Türstock, als sei ihm mit einem Male klar geworden, daß aus unserem hygienischen Standard, der hierzulande üblich ist, keinerlei existentielle Sicherheit des Benutzers abzuleiten ist. Daß nur das dünne Häutchen des Geldbesitzes, die Geborgenheit der Zivilisation von der Ungeborgenheit der städtischen Wildnis trennt. Niemand weiß besser als ein Obdachloser, was eine Notdurft ist und was eine kostenlose öffentliche Bedürfnisanstalt. „Meine Beene tun mir weh!“ sagt Peter, „so isses immer, wenn das Wetter sich ändert. Komm, jetzt zeige ich dir das Eigentliche... Aber Vorsicht, es ist nicht aufgeräumt!“ Er führt mich zu einer der weißlackierten Türen, die vom Flur in die einzelnen Zimmer führen. Ein handbeschriebenes Pappschild mit der Zimmernummer und seinem Namen hängt daran. Er zückt wiederum einen Sicherheitsschlüssel und schließt lächelnd auf. Wir treten in ein großes Zimmer mit einer breiten Fensterfront nach Süden. Das ist das erste, was auffällt, der Blick auf den hellgrauen Himmel. Kein Haus steht dazwischen. Drei Betten aus Holz, drei geräumige Nachtschränkchen mit Lampen, ein Kleiderschrank und ein Tisch samt dreier Stühle möblieren das Zimmer und erinnern ein wenig an Jugendherbergen. Alles ist neu, die Matratzen auf den beiden unbenutzten Betten stecken noch in ihren Plastikschutzhüllen.
Peters Bett steht direkt am Fenster, es ist zerwühlt. Er zupft die Decke etwas zurecht und sagt: „Ein Glück, daß ich noch alleine bin. Wir sind momentan nur acht Mann hier im Haus, Platz is ja für einundzwanzig. Ein alter Mann ist da, der ein bißchen verwirrt ist, manchmal, dann weiß er nicht, wo sein Zimmer ist. Ein Türke ist mit drinne, und den einen Mann von vorhin, den hab' ich heute morgen zum ersten Mal gesehen, das is auch so 'ne Hungerlatte.“ Er deutet zu seinem Bett: „Hier hab' ich meine Hausschuhe stehen, die zieh' ich an, wenn ich abends nach Hause komme... Ich seh', du lachst mich aus, das hab' ich jetzt davon... Und hier“, er lacht und zeigt auf das Nebenbett, auf dem ein buntglänzender Trainingsanzug liegt und ein dunkelgrüner, weiß paspellierter Morgenrock, „das ist mein Hausanzug. Ich mach's mir gemütlich, mache hier meine Lampe an“, er knipst sie an und zeigt, was er alles in seinem Nachtschränkchen hat an Besitztümern, „dreh' mein Radio auf, schau' auf meine Uhr... Und hier“, er öffnet den Kleiderschrank, „hab' ich ein paar neue Unterhosen, den roten Anorak, den kennste ja, noch zwei Hosen, Pullover und Hemden liegen da, aus, fertig. Alles sauber gewaschen! Ja Mann, da staunste, was? Daß du mich so antreffen wirst, eines Tages, das hättest du nicht gedacht. Ich auch nicht!“
Er bietet mir einen Platz an, wischt mit der Handfläche über die Tischplatte und fragt, ob er einen Kaffee machen soll, ob ich eine Stulle mag. Ich erkläre, daß ich ja gerade gefrühstückt habe, und er scheint recht froh, sich die Mühe ersparen zu können: „Weißte, ich bin an sich ja kein häuslicher Mensch. Ich kann mich noch nicht mal daran gewöhnen, in einem Zimmer zu schlafen. Man kriegt ja Angst, das Bett ist so bequem, da denkste, du rollst weg. Die erste Nacht war schrecklich. Erst hab' ich kein Auge zutun können, dann hab' ich geschlafen und am Morgen überhaupt nicht gewußt, wo ich da hingeraten bin. Ich dachte, ich bin im Krankenhaus gelandet. Und viel zu heiß isses. Ich muß immerzu das Fenster aufhaben. Die Heizung dreh ich ab. Aber die eine, die kommt immer, wenn ich weg bin, macht das Fenster zu und dreht wieder auf. Mann, ich halt das doch nicht aus, die Hitze! Ich brauch' meine frische Luft und alles. Wenn du jahrelang auf der Straße gelebt hast wie ich, dann brauchste das alles. Ich vermisse richtiggehend die Kälte, sogar den Schnee und den Regen vermisse ich. Und weißte, was ich am allermeisten vermisse, aber lach nich: Morgens die Vögel. Wenn's man grade so hell wird, da fangen sie an, die Amseln... Davon hörst du im Haus hier drin gar nichts mehr. Na, wenn die Sehnsucht mal ganz doll wird, dann kann ich ja einfach mal draußen bleiben über Nacht, is doch so! Aber sonst fühle ich mich wohl hier drin. Die sind alle nett zu mir, die Betreuer, die Kumpels... Nur eins macht mir Sorgen: Seit ich hier drin bin, tut mir alles weh, die Knochen, die Muskeln, der Kopf, die Zähne, der Magen, einfach alles! Vorher waren's immer nur meine Beene. Ist doch komisch, so was? Andrerseits... Ich komm' nach Hause, wann ich Lust habe. Das Geld schmeiße ich einfach auf den Tisch. Wenn ich will, kann ich sogar hinter mir zuschließen. Und ich bin ja nun auch schon über sechzig... Aber so gut, wie ich es eigentlich haben möchte, auf meine alten Tage, isses noch nicht. Ich hätte so gern ein Zimmer, ganz für mich allein – das muß nicht groß sein –, damit ich nicht dauern damit rechnen muß, daß noch andere mit reinziehen. Na, vielleicht ham sie ja mal ein Zimmerchen für mich frei, wer weiß?“
Wir gehn runter zum ehemaligen Gemeinderaum, wo Peter mir den Trödelbasar zeigen will. Auf Tischen und in hohen Metallregalen liegt alles, was sich in den verschiedenen Haushalten so ansammelt im Laufe der Zeit. Auch einige Regale voller Bücher gibt es, darunter viel kirchliche Literatur. Ich kaufe für Peter einen Taschenkalender zum Abschied und zwei Bücher für mich. Eins ist von Erich Fromm, die „Anatomie der menschlichen Destruktivität“, ein Taschenbuch von 1974, das andere ist von Theodor Lessing, eine Sammlung von Essays und Feuilletons unter dem Titel „Ich warf eine Flaschenpost ins Eismeer der Geschichte“.
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