: Der polnische März der Schande
Ein Machtkampf in der Kommunistischen Partei führte 1968 zu einer antisemitischen Kampagne. 20.000 Juden wurden vertrieben. Heute werden die ersten Opfer von damals geehrt. Schuld war „das System“ ■ Aus Warschau Gabriele Lesser
Im Jüdischen Theater Warschau ist es stockdunkel. Ein Spot geht an. Grell ausgeleuchtet steht Golda Tencer auf der riesigen Bühne. Allein. „Mein Bruder ist in Schweden“, deklamiert die Schauspielerin. „Renia, Elka, Sonia, Lilka, Heniek, Leon sind in Amerika, Hanka, Nysa in Israel, Jurek, Celina, Michal in Schweden, Mirka, Heniek in Kanada, Freda in England, Ewa in der Schweiz.“ Golda Tencer rezitiert kein literarisches Werk. Es ist die Geschichte ihrer Familie und ihrer Freunde. Das Vertreibungsdrama der Juden aus Polen hat sich tatsächlich zugetragen. Golda Tencer ist eine der wenigen Juden, die nach dem März 1968 in Polen geblieben sind.
Vor 30 Jahren bürgerte die polnische kommunistische Regierung knapp 20.000 sogenannte „Zionisten“ und „Systemfeinde“ aus. Viele von ihnen kamen in den vergangenen Tagen zum ersten Mal zurück in die Heimat, um an Diskussionen und Gedenkfeiern teilzunehmen. Zehn Jahre nach der politischen Wende in Polen beginnt sich die Gesellschaft nun auch offiziell an die schwarzen Seiten ihrer Geschichte zu erinnern. Doch den Politikern fällt das Gedenken schwer.
„Dank Jacek Kuron und Karol Modzelewski kann Polen mit ruhigem Gewissen in den Spiegel sehen“, deklamiert Anfang März Staatspräsident Aleksander Kwasniewski. Die intellektuellen KP- Dissidenten Kuron und Modzelewski waren 1968 zum zweiten Mal binnen kurzem für drei Jahre inhaftiert worden. Aus einer Schatulle holt der Präsident den höchsten Orden Polens, den „Weißen Adler“. Die Szene – sie spielt im Präsidentenpalais – hat etwas Unwirkliches. Kwasniewski, ein Postkommunist, dessen Partei vor 30 Jahren die antisemitische Kampagene vom Zaun gebrochen hatte, um den Machtkampf innerhalb der Partei vor der Gesellschaft zu kaschieren, überreicht den beiden den höchsten Orden Polens. „Die Jugend lernte damals den Geruch der Lüge kennen und den bitteren Geschmack des Gefängnisbrotes“, erklärt er feierlich. Und, bereits ins Metaphysische abhebend: „Nicht sie verließen Polen. Es war Polen, das sie verließ.“ Applaus. Die Geehrten verneigen sich. Verantwortlich oder schuldig ist laut Kwasniewski niemand. Allenfalls „das System“. Immerhin kündigt der Präsident an, daß die damals Ausgebürgerten die polnische Staatsbürgerschaft zurückerhalten können, wenn sie einen Antrag stellen.
„Der März 1968 war für uns alle, für meine Generation, ein Schlüsselerlebnis“, erklärt Konstantyn Gebert, Herausgeber der jüdischen Zeitschrift Midrasz. „Ich war damals 15 Jahre alt, flog von der Schule, viele meiner Freunde emigrierten.“ Die Familie blieb trotz vieler Schikanen, weil, wie Gebert es ausdrückt, „meine Eltern zu stolz waren, um sich einfach aus ihrem Land jagen zulassen“.
Begonnen hatte alles im Januar 1968 mit der Absetzung der „Totenfeier“ des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz vom Theaterspielplan in Warschau. Das Stück sei geeignet, so hieß es offiziell, die polnisch-sowjetische Freundschaft zu stören. Das Publikum hatte an antirussischen Stellen geklatscht. Für die Studenten war das Maß nun voll. Die Zensur griff immer stärker in das geistige Leben des Landes ein. Die Studenten gingen auf die Straße, wurden von „Vertretern der Arbeiterklasse“ verprügelt, wie es später in der Presse hieß, und landeten im Gefängnis. Auf Transparenten forderten Arbeiter in „spontanen“ Kundgebungen: „Raus mit den Zionisten!“ und „Säubert die Partei von den Zionisten“.
Erst heute, da die Archive geöffnet werden, wird deutlich, daß das Verbot der Theateraufführung eine staatlich geplante Provokation war. Der Machtkampf innerhalb der Kommunistischen Partei sollte den „Partisanenflügel“ um Innenminister Mieczyslaw Moczar an die Spitze bringen. Die „Moskowiter“ hingegen, Kommunisten, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Roten Armee nach Polen gekommen waren, kämpften um den Erhalt ihrer Macht. Parteichef Wladyslaw Gomulka, der 1956 nach Arbeiterunruhen in Poznan (Posen) enthusiastisch als Reformer von Partei und Staat begrüßt worden war, hatte im Lauf der Jahre alle Hoffnungen auf eine Änderung des Systems enttäuscht. Im Lande gärte es. An Reformen glaubte niemand mehr. Gomulka verlor das Vertrauen der Intelligenz und galt immer mehr als Mann mit beschränktem Horizont. Mieczyslaw Moczar bereitete seinen Coup langfristig vor. Die Juden sollten als Sündenbock dienen. Bereits Anfang der 60er Jahre hatte der ehemalige Geheimdienstchef eine „Abteilung für Ahnenforschung“ eingerichtet, die die „arische“ oder „nichtarische“ Herkunft der Parteikader, Offiziere und Wissenschaftler bis in die achte Generation hinein überprüfte.
Als die Polen während des Sechs-Tage-Krieges 1967 immer häufiger das Victory-Zeichen machten und auf „unsre Juden“ anstießen, die „ihre Araber verhauen“, war das so eindeutig antisowjetisch, daß Gomulka nach Konsultationen mit sowjetischen Beratern eine Hetzrede gegen Israel und Amerika hielt. Er warnte vor den „Zionisten“, der „fünften Kolonne im Lande“. Moczar und seine „Partisanen“ schienen auf dieses Stichwort nur gewartet zu haben: Der „Kampf gegen die „Vaterlandsverräter und Zionisten“ begann.
Insgesamt mußten 20.000 Juden das Land verlassen. Mit dem Überschreiten der Grenze verloren sie automatisch ihre Staatsbürgerschaft. Diejenigen, die im Lande ausharrten, gingen in die innere Emigration. „Nach dem März 1968 war uns endgültig klar“, so Gebert, „daß uns die kommunistische Ideologie und der naive Nationalismus nichts geben konnten. Mit dem Einmarsch der Warschauer-Pakt- Staaten – unter ihnen Polen – in die Tschechoslowakei erloschen für uns endgültig die Ideen eines wie auch immer verstandenen Sozialismus.“
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