: Das jähe Ende eines gepflegten Mythos
Über Jahrzehnte hielten die Niederländer sich daran: Man hätte zahlreich und kraftvoll Widerstand gegen die deutschen Nationalsozialisten geleistet und außerdem viele jüdische Mitbürger versteckt und vor dem sicherern Tod im Konzentrationslager gerettet. Letzten Winter jedoch erlebte das Land seinen „Nazigold“-Skandal, und nun sehen die Niederländer sich gezwungen, noch einmal viel kritischer in ihre jüngere Vergangenheit zu schauen Von Henk Raijer
Der Fund versetzte der Nation einen Schock – und brachte einen Mythos ins Wanken. Vier Kartons mit Karteikarten, die vergangenen Winter in einem Haus an der Amsterdamer Herengracht entdeckt wurden, haben das positive Bild, das Niederländer gemeinhin von sich selbst und ihrem Land haben, seither nachhaltig erschüttert. Das vergessene Archiv von Lippmann & Rosenthal, jener Bank, bei der Hollands jüdische Bevölkerung auf Geheiß der Nazi-Besatzer ihre Wertsachen abzuliefern hatte, brachte den Skandal ans Licht: Beamte des Finanzministeriums, die seit Kriegsende mit der Verwaltung des nicht ins Reich verschobenen Raubguts befaßt waren, haben sich 1969 bei internen Auktionen mit herrenloser Nazibeute eingedeckt. Statt den Schmuck, die Silberbestecke und Uhren, deren Besitzer über zwanzig Jahren nach dem Holocaust nicht mehr ausfindig zu machen waren, öffentlich zu verkaufen und den Erlös jüdischen Organisationen zu überlassen, verhökerte das Personal Gold und Silber zu Spottpreisen untereinander. Unklar ist, was mit dem Ertrag aus dem betriebsinternen „Handel“ geschah.
Holland hat seinen „Nazigold“-Skandal. Die öffentliche Empörung war groß, ein Untersuchungsausschuß schnell beschlossen, und die Forderung nach Bestrafung der Beamten ließ nicht lange auf sich warten. Für Hollands jüdische Gemeinschaft kamen die Enthüllungen nicht unerwartet. „Geahnt hatten wir das schon immer“, sagt Rabbiner Abraham Soetendorp in einem Interview mit der Maastrichter Zeitung De Limburger. „Ein echter Schock jedoch dürfte diese Sache für die niederländische Gesellschaft sein.“
Die hat – und darüber kann auch die jüngste Empörung nicht hinwegtäuschen – jahrzehntelang nicht wahrhaben wollen, daß sich das ach so vorbildliche Holland schon bei der Heimkehr der Landsleute aus den Vernichtungslagern nicht mit Ruhm bekleckert hatte. Im Gegenteil: Während in Frankreich und Belgien die jüdischen NS-Opfer im Mai 1945 mit Carepaketen, Fahnen und Musik empfangen wurden, war für die Überlebenden aus Auschwitz, Ravensbrück und Bergen-Belsen die ersehnte Heimkehr ins befreite Holland eher eine Fortsetzung ihrer Qual.
Daheim nach dem Holocaust? In den Niederlanden, die sich oft als Hüter der internationalen Moral aufspielen und deren Bürger gerne vor anderer Leute Haustür kehren, sind die Juden kühl, wenn nicht gar feindselig empfangen worden. Da standen sie nun im Mai 1945, diese abgemagerten Gestalten, erwarteten Mitgefühl und im günstigsten Fall ihre Wohnung zurück, ernteten aber häufig nur Ablehnung oder Haß. Nicht wenige Nachbarn, die das schlechte Gewissen plagte, weil sie keine Anne Frank im Schrank versteckt hatten, wären vermutlich zufriedener gewesen, wenn die Deportierten gar nicht erst wiedergekommen wären. „Die guten Juden sind tot, die schlechten sind zürückgekehrt“, zitiert 1965 der Historiker Jacques Presser in seinem Buch „Ondergang“ (Untergang) eine populäre Stammtischposition aus der ersten Zeit nach dem Krieg. Und: „Es sind noch zu viele zurückgekommen, unser Land sollte für Juden einen Numerus clausus beschließen.“ Oder auch: „Jetzt, wo die ,Moffen‘ fort sind, ist der Jude wieder unser Feind.“
Der latente Antisemitismus im angeblich so toleranten Holland kannte aber auch subtilere Ausdrucksformen. Nicht wenige Juden mußten erfahren, wie vermeintliche Freunde sich an Wertsachen, die ihnen während der Besatzung anvertraut worden waren, um sie dem Zugriff der Lippmann-Rosenthal-Bank und damit dem „Großdeutschen Reich“ zu entziehen, nicht mehr erinnern wollten. Wilma Stein aus Den Haag, deren Großvater einem Geschäftsfreund ein silbernes Teeservice überlassen hatte, bevor die Familie 1943 untertauchen mußte, erinnert sich, daß der alte Mann seine ganzen Hoffnungen an diese Rücklage geknüpft hatte. „Wenn wir das hier überleben, haben wir Gott sei Dank noch unser Teeservice, pflegte Opa zu sagen. Was keiner von uns wußte: Er hatte das Familiengold darin versteckt. Nach der Befreiung holten wir das Service ab. Als Opa den Deckel vom Pott nahm, traf ihn der Schlag: leer. Gold?, gab sich der Geschäftsfreund ahnungslos, davon wisse er nichts, er habe nur den Erhalt des Teeservice quittiert.“
Daß auch die Behörden den Traumatisierten nicht selten die kalte Schulter zeigten, erzählt die Geschichte des Lou van Emden. Am 31. Mai 1945 meldete sich der junge Mann an der deutsch-niederländischen Grenze. Er war dreißig Jahre alt und wog ganze 31 Kilo. Van Emden hatte Auschwitz überlebt. Die 27 Reichsmark, die er in der Tasche trug, mußte er den Zöllnern überlassen, fremde Währungen durften nicht eingeführt werden. Mit einer Quittung im Gepäck setzte er seinen Weg nach Amsterdam fort – allein; seine Frau und ihre Angehörigen hatten die Nazis umgebracht. Nach zwei Jahren erhielt van Emden einen Bescheid vom Finanzamt. Die konfiszierte Summe, so mußte er lesen, bleibe in den Tresoren des Königreichs. Der niederländische Staat könne das Geld nicht als Lohn aus regulärer Erwerbsarbeit im Ausland ansehen. In anderer Hinsicht hatten die Behörden schneller gearbeitet: Gut einen Monat nach seiner Rückkehr erhielt van Emden die schriftliche Aufforderung der Stadt Amsterdam, die Gasrechnung der letzten drei Jahre zu begleichen...
Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit und Ignoranz allerorten. Holländische Juden, die in den ersten Nachkriegsmonaten bei ihrer Behörde um Unterstützung nachsuchten, staunten nicht schlecht, als sie ihren Antrag ausfüllten: „War es notwendig, daß Sie untertauchten?“ lautete da die erste Frage. Oder: „Von wem sind Sie festgenommen worden?“ So, als hätte der Herr Obersturmbannführer bei der Razzia seine Visitenkarte abgegeben. Wenn es darum ging, der vom Faschismus am härtesten getroffenen Bevölkerungsgruppe unter die Arme zu greifen – sei es bei dem Bemühen, die alte Wohnung wiederzubekommen, sei es, um eine Arbeit zu finden –, erwies sich der niederländische Staat, gelinde gesagt, als schwerfällig.
Um die Rückgabe ihres Eigentums und um spätere Rentenansprüche als Verfolgte des Naziregimes mußten Hollands Juden oftmals Prozesse führen. Wie die lieben Nachbarn fühlten sich auch Banken, Versicherungen und Regierungsstellen nicht in der Pflicht. Begründet wurde die ablehnende Attitüde recht eigenwillig mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz: In Holland machen wir nicht den Unterschied, den die Deutschen gemacht haben. Juden sollen sich gefälligst nicht so aufspielen, wir alle haben unter der Besatzung gelitten, die kriegen bei uns keine Extrawurst gebraten.
Daß sie in den Niederlanden nicht auf besondere Rücksichtnahme zu hoffen brauchten, bekamen einige Überlebende der Nazi-KZs auf bizarre Weise zu spüren. Deutsche, österreichische und tschechische Juden, die aus den Niederlanden verschleppt worden waren und sich nach ihrer Rückkehr 1945 bei den Behörden ihrer Wahlheimat meldeten, wurden als Bürger feindlicher Nationen angesehen und als „Staatenlose“ eingestuft. Für sie begann der erste Tag im befreiten Holland, wie der letzte in Bergen-Belsen aufgehört hatte: hinter Stacheldraht. Schlimmer noch: Die, die sich endlich frei und daheim wähnten, wurden ausgerechnet mit Kollaborateuren ins gleiche Lager gesteckt.
Ina Rosenthal war acht Jahre alt, als sie aus dem KZ Bergen-Belsen befreit wurde. An der Grenze mit dem Prädikat „staatenlos“ ausgezeichnet, fand sich die Familie Anfang Juni 1945 im Internierungslager Vilt wieder. Erneut Stacheldraht, tägliches Exzerzieren und brüllende Lagerleiter.
Wir schliefen dort Seite an Seite mit Angehörigen von Waffen-SS und NSB [Nationalsozialistische Bewegung Hollands; d.Red.]. Das war für uns ganz schlimm“, erinnert sich Ina Rosenthal in „Sporen van de oorlog“ (Spuren des Krieges), einer Publikation der „Anne Frank Stichting“. „Die Lagerleitung behandelte uns wie Landesverräter, sie unterschied nicht zwischen Opfern und Tätern. Der Kommandant machte aus seiner Einstellung keinen Hehl: ,Ich bin kein Judenfreund‘, sagte er. ,Und das werdet ihr zu spüren bekommen.‘“ Dreimal täglich mußten die Rosenthals mit allen anderen Juden zum Appell antreten. Gemeinsam mit den Nazi-Kollaborateuren verrichteten sie Zwangsarbeit in einer Kiesgrube. Erst nach Intervention holländischer Widerstandskämpfer und auf Druck der USA wurde die Gruppe Ende Juli in ein Auffanglager für Juden ins südniederländische Vaals verbracht.
Die Indifferenz, die Kälte, die den Überlebenden in dieser ersten Zeit nach dem Krieg entgegenschlug, brachte zum Ausdruck, daß viele Niederländer es den Opfern übelnahmen, daß diese ihnen, indem sie zurückgekehrt waren, Schuldgefühle bereiteten: Der Haß verdeckte die Scham der Mitläufer über die eigene „passive Kollaboration“. Und so sei die Vermutung erlaubt, daß die antideutschen Ressentiments, die in Holland auch nach mehr als fünfzig Jahren nach der allzu heftigen Umarmung durch das „arische Brudervolk“ immer wieder gern reaktiviert werden, in den meisten Fällen weniger mit erfahrenem Kriegsleid zu tun haben als mit Scham – mit der Erinnerung, die nicht wenige kompromittiert.
Auch wenn ältere Niederländer immer wieder glauben machen wollen, jeder zweite sei Widerstandskämpfer gewesen – nirgendwo sonst im besetzten Europa haben Staatsdiener so bereitwillig ihren Ariernachweis erbracht. Nirgendwo sonst haben so viele als SS-Freiwillige kollaboriert. Und nirgendwo sonst haben Eisenbahner und Polizei die Nazis bei der Deportation der Juden – prozentual gesehen – so wirkungsvoll unterstützt.
Die „Nazigold“-Affäre hat alte Wunden aufgerissen. Bei den Juden ohnehin, aber auch bei jenen Europäern, die sich stets moralisch überlegen fühlen und anderen, insbesondere den Deutschen, gern die Leviten lesen. Jahrzehntelang teilte man in den Niederlanden die Menschen, die den Krieg erlebt hatten, in drei Kategorien ein: die Opfer, die Guten und die Bösen. Ausgesprochen übersichtlich also. Jetzt haben ein paar verstaubte Karteikarten die Aufmerksamkeit wieder auf die „graue Masse“ gelenkt, die sich während der Besatzung hinter der Zivilcourage einiger weniger versteckt hielt, deren Mut aber nach dem Krieg sofort und ohne Skrupel für sich reklamierte.
Für Abraham Soetendorp täte eine Aufarbeitung des jüngsten Skandals not. Nicht so sehr, damit die 1969 intern versteigerten Sachen ihren rechtmäßigen Eigentümern zurückgegeben werden könnten. „Nein, dafür ist es in den meisten Fällen zu spät. Aber eine genaue Prüfung könnte ans Licht bringen, daß die alltäglichen Formen des Verrats und des Antisemitismus keine spezifisch deutsche Eigenart waren.“ Will heißen: Der selbstgestrickte Mythos, wonach alle Holländer auf der „richtigen“ Seite gestanden hätten, gehört endlich in die Mottenkiste.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen