: Schöne Stimmen: Die Nachtigall singt Dadada
#Frühling!4./5. April 1998
Schöne Stimmen: Die Nachtigall singt Dadada
Jedes Jahr wird eine streng begrenzte
Anzahl junger Nachtigallen der Berliner Wildnis entnommen und dem Institut für Verhaltensbiologie zugeführt. Dort beschäftigen sich Kommunikationsforscher mit der Entwicklungsgeschichte des Vogelgesangs. Von der legendenumwobenen Nachtigall ist nicht nur bekannt, daß sie 200 Strophentypen bilden kann. Auch verschiedene Dialekte und andere Merkwürdigkeiten wurden belauscht. Ein Ausflug
in die Vogelwelt Von Wolfgang Müller
Frühling kommt, der Sperling piept, Duft aus Blütenkelchen...“, sang einst Marlene Dietrich über eine Vogelstimme, die den nahenden Frühling ankündigt. Nun gilt der Haussperling, den sich der Komponist und Texter Friedrich Hollaender als Frühlingsboten erkor, nicht gerade als begnadeter Sangeskünstler. Sein Repertoire umfaßt eigentlich nur ein kurzes „errr“, „tetetetet“ oder das lautstarke „tschilp tschilp tschilp“. Andererseits hatte Hollaender möglicherweise den unbekannteren Vetter des Haussperlings, den Feldsperling im Sinn, als er den Songtitel „Kinder, heut' abend“ schrieb. Bald schon im Frühjahr sitzt nämlich das Feldsperlingsweibchen auf einem Baumzweig, flattert dabei ekstatisch mit den Flügeln und stößt zarte Lockrufe aus, die das Männchen anziehen sollen. Das ist für den Umworbenen sicher recht praktisch, denn im Gegensatz zum Hausspatz tragen Weibchen und Männchen des Feldsperlings ein nahezu gleiches Federkleid.
„Spatz im Trainingsanzug“ nennen die Holländer liebevoll die blau-gelb-grün- schwarz gezeichnete Blaumeise, die ebenfalls bei den ersten Sonnenstrahlen ihren Lockruf, ein hübsches glockenhelles „pink pink“, ertönen läßt. Blaumeisengesang enthält besonders viele Nachahmungen anderer Vogelstimmen. Das kleine Lied könnte sie also auch vom Buchfink gelernt haben, der ebenfalls gern „pink pink“ singt. Er erhielt deshalb übrigens seinen Beinamen „Fink“.
Aber auch im Winter, auf tiefverschneiten Tannen singt die Blaumeise „zizigä zizigä“. In den Sommermonaten, wenn Drosseln flöten, Rotkehlchen trillern und Buchfinken jubeln, geht das Meisenpaar dagegen ziemlich stumm seiner Beschäftigung nach: Ein Dutzend und mehr Jungvögel gieren in der Nisthöhle nach Nahrung. Jeder Nistkastenbesitzer weiß, wie zerrupft und abgearbeitet die Altvögel nach zwei Wochen Jungenfütterung aussehen. Sicher hat das aber den Ruf der Meise als besonders nützlichen Vogel gestärkt. Von jeher galt sie zudem als ausgesprochen intelligent.
Sigurd, der Held aus der altisländischen Edda, gehört zu den ersten, die die Meisensprache entziffern konnten: So schneidet er dem getöteten Drachen mit seinem Wunderschwert das Herz aus dem Leib, um es zu grillen. Mit dem Finger kostet er vom Bratensaft, verbrennt sich den Finger und führt ihn zum Mund. Als das Drachenblut auf seine Zunge gelangt, versteht er die Vogelsprache. Es sind sechs Meisen, die ihm in der „Vogelweissagung“ einige nützliche Ratschläge für die Zukunft geben.
Zu zierliche Singvögel für das nationalsozialistische Deutschland: In einer voluminösen, kiloschweren Edda-Sonderausgabe von 1943 werden aus den sechs Meisen des isländischen Originals kurzerhand drei Adler: „Sigurd versteht die Adler“ untertitelt der Illustrator in runiger Schrifttype ein laffes Aquarell mit dem blondgelockten Helden, über dem drei Adler im Geäst thronen.
Heute zählen Wissenschaftler Meisen zu den Kleinvögeln mit dem höchsten Intelligenzquotienten. Seit die englischen Blaumeisen vor einigen Jahren entdeckt haben, daß sie lediglich die dünnen Aludeckel der morgendlich vor die Häuser gestellten Milchflaschen durchpicken müssen, um an den oben schwimmenden Rahm zu kommen, bleibt kein Deckel in England mehr heil. Die neue Nahrungsquelle sang sich sozusagen im Laufe von zwei Jahren bis nach Schottland herum. Ein wunderbares Thema für englische Biologen, die weltweit als führend in der Erforschung des Verhaltens von Blau- und Kohlmeisen gelten.
Als ausgesprochen dumm bezeichnete der Berliner Ornithologe und Tierpsychologe Oskar Heinroth dagegen vor siebzig Jahren die Nachtigall. Zwar hat er in seinen Schriften immer wieder darauf hingewiesen, daß es falsch wäre, Vögel moralisch zu bewerten, also vom „stolzen“ Kranich oder der „dummen“ Gans zu sprechen, andererseits die Nachtigall ohne Skrupel als „zu den dümmsten der Erdsänger“ gehörig gezählt. Als Beweis führte er an, daß er sie immer wieder mit einem Mehlwurm in den Käfig locken könne, selbst wenn die Käfigtür danach sofort geschlossen werde. Das sei jedem Vogel höchst unangenehm, der etwas Freiflug gewöhnt sei, meinte Heinroth. Als ob das Bedürfnis, statt im Käfig zu hocken lieber im Zimmer eines Wissenschaftlers herumzufliegen, etwas mit Intelligenz zu tun hätte!
Das Nachtigallmännchen beginnt seinen legendären Frühlingsgesang gleich nach der Rückkehr aus Westafrika, gegen Ende April. In verwucherten Parkanlagen und verfransten Gebüschen fühlt der Vogel sich wohl und hebt zu extrem variationsreichen Gesängen an. Während Meeresvögel wie Möwen, Alken und Sturmtaucher durch die Verwendung besonders hoher Frequenzen die lautstarken Meereswogen übertönen, haben Vögel, die den verbuschten und daher besonders schallschluckenden Wald bewohnen, vorwiegend Stimmen entwickelt, die flötenähnlich klingen. Um als Individuen unverwechselbar zu bleiben, bilden die Waldvögel zudem größere Repertoires und abwechslungsreichere Melodien aus.
„Im Anfang war die Nachtigall und sang das Wort. züküht! züküht!“ dichtete Heinrich Heine im Jahr 1856. Tatsächlich ist der zurückhaltend gefärbte Vogel in der Lage, neben „züküht“ weitere 200 Strophentypen zu bilden, die Amsel besetzt mit dreißig den folgenden Platz.
Die „Sängerin der Nacht“, so die Übersetzung ihres Namens, jubiliert allerdings nicht nur nachts, ebenso gern und oft schluchzt sie auch am Tag.
Berlin nimmt bei der Erforschung des Nachtigallengesangs eine führende Rolle ein. In einem flachen Gebäude neben dem Botanischen Garten, dem Institut für Verhaltensbiologie, singen Nachtigallen auch zur Winterzeit. Auf die Frage, ob es sie nicht unwiderstehlich zu ihren Winterplätzen nach Westafrika zieht, entgegnet Silke Kipper: „Nein, nein. Die werden im Herbst schon etwas zugunruhig, kleben aber durchaus nicht am Käfigdraht.“ Silke Kipper und Cord Riechelmann sind Doktoranden bei Kommunikationsforscher Dietmar Todt und der bekannten Nachtigallengesangsexpertin Henrike Hultsch. Eine streng begrenzte Anzahl von Berliner Nachtigallen wird jedes Jahr kurz nach dem Ausschlüpfen der Berliner Wildnis, also dem Tiergarten oder Teufelsberg, entnommen und dem Institut zugeführt. „Die Nachtigall ist ein klasse Studienobjekt“, betont Silke Kipper. „Sie hören und merken sich den Gesang von ihrem Vater, fliegen dann nach Westafrika, um dort mit dem Subsong und später dem Plastiksong zu beginnen.“ Der Subsong wäre mit Kindergebrabbel vergleichbar, die Struktur, also Strophe–Pause–Strophe, sei noch nicht ausgebildet, der folgende Plastiksong ließe dann erste Strukturen erkennen.
Wissenschaftlern gilt die Entwicklungsgeschichte des Vogelgesanges als Modellsystem, das Ähnlichkeiten mit der frühen Phase der Sprachentwicklung des Menschen aufweist. Wie das mit der Berliner Love Parade wäre, ob es nicht sein könnte, daß der baßlastige Umzug durch den Tiergarten die dort lebenden Vögel total verwirre. „Das ist schwer zu sagen“, erwidert Cord Riechmann etwas vorsichtig, „klanglich jedenfalls nicht. Ihre Strophen haben sie zu dieser Zeit bereits gelernt. Die Parade findet ja im Hochsommer statt.“
Es scheint natürlich schwer vorstellbar, daß es dem versteckt lebenden Vogel gefällt, wenn eine riesige Masse glücklicher und ausgelassener Menschen zum Tanzen oder Pinkeln in sein Reich kommt. „Vernichtet sind die lieblichen Gebüsche, der dunkle Nachtigallenwald zerstört“, dichtete Wieland – allerdings schon lange vor der Existenz der Love Parade.
Das Nachtigallenmännchen selbst ist allerdings auch nicht gerade zimperlich, wenn es darum geht, mit Gesang sein Revier zu markieren. Gemein fällt er den singenden Konkurrenten kurz vor dem Ende einer Strophe ins Wort – eine beliebte Methode, diesen zu verwirren. „Der Nachtgesang lockt die Weibchen an, während der Tagesgesang der Markierung des Reviers dient“, erläutert Silke Kipper. Deshalb sei das Aufnehmen dieses Nachtgesanges für die Forscher immer auch ein Kampf mit der Zeit. Die letzten Nachtsänger des Jahres sind ledige Männchen, die mangels Attraktivität noch keine Partnerin gefunden haben. Die Weibchen bevorzugen nämlich besonders variationsreich singende Männchen. Daneben, so stellte die Nachtigallengesangsexpertin Henrike Hultsch fest, spielt auch der Dialekt, der regionale Ausweis bei der Gunstgewinnung, eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Singen Vögel auch einfach so, aus Spaß und Freude? „Das ist ein altes unentschiedenes Problem“, meint Cord Riechmann. Auf jeden Fall könnte es sein, daß das Singen auf den Sänger positiv zurückwirkt, seine Stimmung hebt. Das seien aber Hypothesen, die zur Zeit untersucht würden. Im Institut selbst leben die einzelnen Vögel in großen Käfigen und hüpfen mit ihren langen Beinen und dem glatten rötlich- braun-grauen Gefieder elegant über die Sitzstangen. Gelegentlich stelzen sie mit dem Schwanz. Irgendwie machen sie einen etwas arroganten Eindruck. „Gesellig sind sie jedenfalls nicht“, sagt Silke Kipper und wirft einen Blick auf das etwas heller gefärbte Weibchen, „zwei männliche Vögel in einem Raum würden sich regelrecht an die Wand singen.“ Auch für die Wissenschaftler ist so ein Duell ohne Ohrschutz nicht leicht zu ertragen. Ein sauber aufgenommener Nachtigallengesang mit seinen kristallklaren, eindringlichen Höhen schmerzt ungemein, besonders auf CD. Je ein Männchen und ein Weibchen befinden sich deshalb getrennt in einem Raum. Um den Gesang zu notieren, werden im Institut Sonagramme erstellt, die die Möglichkeit bieten, Höhe, Zeitablauf und Tonqualität in Form eines Diagramms abzulesen.
Vor hundert Jahren versuchten Ornithologen, die Gesänge in Noten oder Klangsilben wiederzugeben. Die Notierung in Klangsilben ist in populärwissenschaftlichen Vogelbüchern bis heute in Gebrauch. In dem Klassiker „Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas“ notierte Johann Friedrich Naumann im Jahr 1896 die Gesangsstrophen der Nachtigall wie folgt:
„Ih ih ih ih ih watiwatiwati!
Diwati quoi quoi quoi quoi quoi qui
ita lülülülülülülülülülü watiwatiwatih!
Ihih titagirarrrrrrrrr itz,
lü lü lü lü lü lü lü lü watitititi,
zwoi woi woi woi woi woi woi ih...
Dadada jetjetjetjetjetjetjetjetjet...“
Gewisse Ähnlichkeiten zur Ursonate von Kurt Schwitters sind nicht von der Hand zu weisen, wenngleich der zündende Funke zur Entstehung dieses Kunstwerks ja von Raoul Hausmanns Vortrag des dadaistischen Plakatgedichts „fmsbwtözäupggiv?mü“ im Jahr 1921 gekommen sein soll. In der gleichen Zeit hat auch Robert Musil seinen Text „Die Amsel“ geschrieben. Wunderbare Nachtigallentöne sitzen da auf dem First des Nachbarhauses und springen in die frühmorgendliche Berliner Luft wie Delphine. Oder erscheinen wie Leuchtkugeln beim Feuerwerk, die an den Fensterscheiben zerplatzen und als große Silbersterne in die Tiefe sinken. Schließlich entpuppt sich der Sänger in Musils Erzählung als gewöhnliche Amsel, die die Strophen der Nachtigall imitiert.
Dem nachtigallosen Island ist deshalb die Amsel eine wunderbare Erscheinung. Im Jahr 1992 verschlug es einige wenige dieser Vögel auf die Insel. „Turdus merula brütet seitdem regelmäßig in Reykjavik“, bestätigt Vogelexperte Gudmundur Gudmundsson vom Nationalen Naturkundemuseum: „Es gibt auf Island sehr viele Meeres- und Wattvögel, aber relativ wenige Singvögel. Amsel und Feldsperling sind da eine echte Bereicherung.“ Der Sperling als Bereicherung? „Ja, seit neun Jahren brütet dieser Singvogel regelmäßig hier“, Gudmundur Gudmundsson lacht freundlich, „nein, nein – nicht in Reykjavik, sondern im Südosten, auf einer Farm namens ,Hof‘.“ Rund um die Farm leben etwa fünfzehn Sperlinge – eine Sensation nicht nur für Ornithologen. Ein Besuch bei der einzigen isländischen Sperlingskolonie gilt auch den Bewohnern der Eis- und Vulkaninsel als ganz besondere Attraktion.
Ausschnitt aus „Das Nachtigallengebüsch“, Aquarell von Philipp Otto Runge (1810) Foto: AKG Berlin
Die optisch unscheinbare
und elegante Nachtigall
Zeichnung aus dem Schallplatten-
Vogelbuch „Sang da nicht die Nachtigall?“,
Verlag J. Neumann-Neudamm
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