: Stockender Verkehr
Zwischen Kuschelrock und Staubericht: Ortwin on Air. Bürgermeister Runde mit Modern Talking auf Du und Sie. Ein Lauschbericht ■ von Silke Mertins
Kopfhörer auf, Mikro vor der Nase, das rote Licht leuchtet auf. Achtung: Ortwin on Air. „Acht Kilometer stockender Verkehr auf der A 1“, liest Hamburgs Erster Bürgermeister Ortwin Runde (SPD) fehlerfrei vom Blatt. Stau auch vor dem Elbtunnel und anderswo. Man hat's nicht leicht morgens zwischen acht und neun. Als Bürgermeister schon gar nicht. Um zwanzig nach sechs ist Runde gestern aufgestanden. Das ist früh für einen Morgenmuffel. Zu allem Überfluß muß gute Laune gemimt werden, denn es gilt die Zielgruppe des Radiosenders Magic fm zu erobern; WählerInnen zwischen 25 und 45 kann die Sozialdemokratie immer gebrauchen.
Moderator Marzel Becker kennt kein Erbarmen. Er stellt der Nummer eins der Hamburger Politik die Fragen, die die HörerInnen um diese Morgenstunde wirklich bewegen. Zum Beispiel, ob unser aller Ortwin „hier“schreit, wenn Gattin Gisela ruft, es solle mal jemand den Müll rausbringen. Ach, sagt der Senatschef, „da bin ich nicht der erste“. Und sonst? „Den Geschirrspüler ein- und ausräumen kann ich.“Oh, oh, flötet Marzel, „ein emanzipierter Bürgermeister“.
So, und nun kommen wir auf die tiefenpsychologische Ebene. Ist Ortwin Runde ein Mann, an dessen Schulter sich Gisela ausweinen kann? Zum Beispiel im Kino? „Ich bin schon lange nicht mehr im Kino gewesen“, bedauert Runde. Keine Zeit. Und auf dem heimischen Sofa vor dem Fernseher? Da weint Gisela offenbar nicht. Runde guckt höchstens Krimis. Auch wann er zuletzt auf einem Konzert war, kann der 54jährige nicht mehr genau sagen. Doch, doch die Gruppen Beatles und Rolling Stones kennt er schon. Er hört aber am liebsten Klassik, und die Musik seiner beiden Söhne „kann einem schon ganz schön auf den Geist gehen“.
Marzel wird langsam unduldsam. Runde ist nicht einmal ein Gummibärchen- oder Pralinen-Fan. In der Mittagspause ißt er Obstsalat. Wie soll man so einen der Zielgruppe nahbringen? „Ich lutsche aber Fisherman's Friend ganz gern – da steh ich drauf!“triumphiert Ortwin, der Ostfriese, auf. Ja, wie schmecken denn die? „Hamburgs schärfster Typ“, gluckst Moderator Marzel. Anlaß genug für Senatssprecher Ludwig Rademacher, gewisse Presseleute zu warnen. „Schreiben Sie nicht wieder Fischer-Menz' Friends!“
Jetzt droht ein Test. Ein Stück wird eingespielt. Runde denkt an die Zielgruppe und wippt. „Ekstase beim Bürgermeister“, teilt Marzel den Twens und Thirties mit. Und welche Gruppe ist das? „Jaja“, sagt Ortwin. Nun, wer ist das? „Jaja.“Also, es ist Modern Talking! Runde soll sagen, ob er von deren Wiedervereinigung weiß. Runde wippt. „Eine brandneue Information für unseren Bürgermeister“, vibriert Marzel, „er kann ja nicht alles wissen.“
Immerhin hat Runde schon mal von Guildo Horn gehört. Und er findet, man dürfe im allgemeinen und besonderen nicht immer nur nach Äußerlichkeiten gehen. Runde trägt an diesem Morgen sein blau-weiß-gestreiftes Hemd, das am Kragen diese aparten Knöpfe hat, zu rotgemusterter Krawatte. Zu Horns Friseur kann er aber nicht gehen. Gisela erlaubt es nicht.
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