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Geldsegen für Sozialkassen?

Urteil: Selbständige sind Angestellte, wenn sie nur einen Auftraggeber haben. Unternehmen drohen nun Nachzahlungen von 30 Milliarden Mark in Sozialkassen  ■ Von Hermannus Pfeiffer

Hamburg (taz) – Fahrradkuriere, Heimarbeiterinnen und Versicherungsvertreter dürfen hoffen, zukünftig nicht mehr unfreiwillig und schlecht bezahlt als Scheinselbständige zu arbeiten. Deren Zahl wird in Deutschland auf eine halbe Million geschätzt. Anlaß der Hoffnung ist ein Nürnberger Urteil, mit dem kürzlich eine freie Handelsvertreterin zur ganz normalen Angestellten der Hamburg- Mannheimer erhoben wurde.

Macht dieser Präzedenzfall Schule, kommen auf deutsche Unternehmen Milliardenforderungen der Sozialträger zu. Die neuen Angestellten dürfen dafür Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall genießen und sich über die Zahlungen ihres Arbeitsgebers in die Arbeitslosen- und Rentenkassen freuen.

Zu diesem einzigartigen Schluß kam das Landesarbeitsgericht Nürnberg. Die 4. Kammer urteilte, daß eine bislang freiberufliche Versicherungsvertreterin eigentlich eine reguläre Arbeitnehmerin sei: „Es wird festgestellt, daß die Klägerin in einem Arbeitsverhältnis steht“ (Aktenzeichen 12 Ca 4696/96). Maßgeblicher Entscheidungsgrund war, daß die Frau von nur einem einzigen Auftraggeber abhing. Dabei sei es egal, ob der „Drücker“, so das Gericht, haupt- oder nebenberuflich die Policen verkauft.

Sollte dieser Richterspruch genügend Nachahmer finden, könnten bald Hunderttausende formal Selbständige, die ausschließlich für eine Firma tätig sind, als abhängige, aber sozial abgesicherte Arbeiter oder Angestellte gelten. Auf die Unternehmen werden dann Milliardenforderungen der Renten- und Arbeitslosenkassen niederprasseln. Obendrein könnten die neuen Angestellten auf Rückzahlung der selbst gezahlten Arbeitgeberanteile für Krankenkasse und Pflegeversicherung klagen. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) verweist auf eine vierjährige Verjährungsfrist. Insgesamt könnten sich die Forderungen an Firmen auf etwa 30 Milliarden Mark summieren.

Gespanntes Interesse weckt das Nürnberger Urteil bei den 360.000 „selbständigen“ Außendienstlern der deutschen Versicherungen. Die Mehrzahl von ihnen arbeitet als sogenannte Ausschließlichkeitsvertreter, vertreibt also ausschließlich Produkte von einem einzigen Unternehmen. Auf diese scheint das Nürnberger Angestelltenurteil unmittelbar anwendbar zu sein.

Vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft fehlt allerdings bislang eine Stellungnahme. Es müsse erst die Meinung der 500 Mitgliedsfirmen eingeholt werden, erklärte ein Verbandssprecher in Berlin. Flotter arbeitet die Deutsche Angestellten Gewerkschaft (DAG). „Das Urteil ist eine wichtige Geschichte, da viele, viele Verträge in der Branche genauso sind“, sagt Mark Roach von der DAG. Die Gewerkschaften werden den juristischen Durchbruch nutzen, „um in direktem Kontakt mit Unternehmen die Umwandlung der Verträge herzustellen“, so Roach. Auch seine Kollegen von der Gewerkschaft Handel-Banken-Versicherungen begrüßen das Urteil.

Die Hamburg-Mannheimer will in die Berufung gehen, verspricht ein Konzernsprecher, der auch auf entgegengesetzte Urteile verweist. Andere Unternehmen hätten wohl ein stille, interne Lösung vorgezogen, auch weil das Nürnberger Urteil nicht allein dasteht: In der Urteilsbegründung wird auf eine gemeinsame Linie mit dem Bundesarbeitsgericht in Kassel verwiesen, das für die Berufung zuständig ist.

Und auch Praktiker geben den Nürnbergern recht: Rainer Helbing von der BfA verweist auf eine „Reihe von Fällen“, in denen Scheinselbständige entdeckt worden seien. Der Hintergrund: Seit 1996 überprüfen die Rententräger nach und nach alle Freiberufler und „Unternehmer“. Existiert tatsächlich nur ein einziger Auftraggeber, „so steht das Kriterium für die BfA fest“. Wiederholt sollen Arbeitgeber die BfA-Bewertung dann auch akzeptiert haben. Hoffnungen ruhen auch auf einer Gesetzesinitiative des Freistaates Sachsen, die helfen soll, endlich einen zeitgemäßen Arbeitnehmerbegriff zu prägen.

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