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■ Durch die Mehrwertsteuer steigt im Einzelhandel der Wettbewerbsdruck. Dabei wäre Deutschland längst Billigkaufland, würde die Werbung das Markenbewußtsein nicht pflegenEinkaufen ist ein emotionaler Akt

Durch die Mehrwertsteuer steigt im Einzelhandel der Wettbewerbsdruck. Dabei wäre Deutschland längst Billigkaufland, würde die Werbung das Markenbewußtsein nicht pflegen

Einkaufen ist ein emotionaler Akt

Nein, die meisten Preisschildchen an T-Shirts, Jeans und Hosenanzügen sind noch dieselben, obwohl in dieser Woche die Mehrwertsteuer erhöht wurde. Was soll man auch machen, wenn das Baumwollhemdchen bisher 19.90 Mark kostete? Etwa 20.05 Mark fordern? „Es gibt viele Schwellenpreise, die nicht so ohne weiteres erhöht werden können“, erklärt Gerhard Richter, Sprecher des Einzelhandelsverbandes Baden-Württemberg. Die Handelsunternehmen würden eher versuchen, bei ihren Lieferanten noch günstiger einzukaufen. „Der Wettbewerbsdruck im Handel verstärkt sich“, befürchten Richter und seine Kollegen anderer regionaler Handelsverbände.

Die neue Mehrwertsteuer von 16 Prozent gilt im Einzelhandel für Kleidung, Möbel, Autos, die meisten Getränke. Eßwaren unterliegen nach wie vor nur dem ermäßigten Steuersatz von sieben Prozent. Trauen sich die Handelsunternehmen nicht, die höhere Steuer an die Verbraucher weiterzugeben, müssen sie noch enger kalkulieren. Dabei toben schon seit Jahren immer heftigere Kämpfe an den Billigfronten der Discounter, Handelsmarken und neuerdings Fabrikverkaufsstellen. „Was die Einzelhandelspreise betrifft, leben die Kunden in Deutschland im Schlaraffenland“, sagt Thomas Werz, Sprecher beim Hauptverband des deutschen Einzelhandels (HDE). Die Preissteigerungsrate im Einzelhandel betrug im vergangenen Jahr nur ein Drittel der allgemeinen Preissteigerungsrate.

In den 70er Jahren entstand die Billigfront der „weißen“ Marken. Die großen Lebensmittelketten stellten Produkte im bescheidenen Gebrauchswertdesign wie AP oder JA in ihre Regale. Auch Modehandelsunternehmen wie Hennes & Mauritz lassen Jeans und Hemdchen ihrer Handelsmarken „Rocky“ selbst irgendwo schneidern, anstatt über die Industrie Fremdmarkenware teurer einzukaufen.

Chio Chips produziert unter anderem Namen für Aldi-Knabbergebäck, mit leicht veränderter Gewürzmischung. Wolfgang Joop läßt seine Jeans bei Mustang nähen. In Elektrowerken laufen fast baugleiche Staubsauger vom Band, die einmal mit dem teuren Siemens-Label, ein anderes mal mit billigeren Kaufhauslabels versehen werden. „Handelsmarken müssen nicht mehr schlechter sein als die Markenartikel“, sagt Werz. Barbara Schrobsdorff, Warenprüferin beim Forschungsinstitut Hohenstein, wird konkret: „Wenn sie heute Kleidung bei Aldi oder Eduscho kaufen, dann ist die so abgecheckt, da kriegen sie eine sehr gute Qualität.“ Von den Fortschritten in der industriellen Fertigung profitieren vor allem Billigwaren. Der Billigeinzelhandel tut ein übriges: „Die Verbraucher werden heute mit Schnäppchen bombardiert“, sagt Dieter Reidel von der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) in Nürnberg. Um auch die schwerverkäuflichen Waren noch loszuwerden, haben viele Kaufhäuser nicht nur Schnäppchenmärkte in den Untergeschossen eingerichtet, sondern auch „Abschleuskanäle“, das heißt Ramschmärkte außerhalb der Stammhäuser. Karstadt in Berlin verschleudert Ladenhüter im Kaufhaus Fox in Kreuzberg, Tschibo verscherbelt Restwaren in den „Posten und Partien“-Märkten, der Otto-Versand unterhält die Kette „Corso“.

Die jüngste Billigfront sind die sogenannten Factory Outlets, Fabrikverkäufe, mit denen sich die Markenartikelindustrie gegenüber dem Handel selbständig macht. In Deutschland laufen zur Zeit mehr als 30 Raumordnungsverfahren über die Ansiedlung von Factory Outlet Centers (FOC). In der Gegend um Zweibrücken klagen allein drei Gemeinden gegen die Ansiedlung der Fabrikverkäufe, weil sie um die Struktur des örtlichen Einzelhandels fürchten. Aber auch schon bei kleineren Projekten gibt es Probleme: In Berlin beispielsweise verkauft der Bekleidungshersteller Henke seine Damenmode der Marken „Blacky Dress“ und „Jean Paul“ in einem Outlet in Berlin-Tiergarten, mit hohen Preisabschlägen gegenüber dem Einzelhandel. Die Folge: Aus Protest nahm das Kaufhaus KaDeWe die Henke-Marken aus dem Sortiment.

Würden die Kunden immer nur die Waren mit dem günstigsten Preis-Leistungs-Verhältnis nehmen, bräche der Einzelhandel und die Markenartikelindustrie längst zusammen. Die Grundbedürfnisse sind ohnehin schnell gedeckt: Noch vor 30 Jahren gab eine vierköpfige Familie 40 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel aus, heute sind es gerade mal noch 20 Prozent.

Geschenkt, vor allem im Vergleich zur sogenannten Dritten Welt. In China beispielsweise gab es zwar in diesem Zeitraum ebenfalls einen Rückgang, doch auf einem ganz anderen Niveau. Die Dorfbevölkerung mußte 1978 im Durchschnitt 67,7 Prozent der Haushaltseinkommen für Lebensmittel ausgeben, 1996 waren es immer noch 56,3 Prozent. Bei uns ist Einkaufen heute in erster Linie ein emotionaler Akt. Da spielt nicht nur der Klang der Marken, sondern auch die schicke Einkaufsstätte eine große Rolle. Die Billigkaufhäuser haben das erkannt: Selbst Filialen von Woolworth und der Kaufhalle werden zu „Multistores“ mit Spotlights und Deko angehübscht. Barbara Dribbusch

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