piwik no script img

Jenseits der Klassenfrage

Bei American Darts kann man nicht viel verdienen, das aber wenigstens zu unüblichen Zeiten. Dabei fragt sich: Wie mit viel Koffein im Blut eine ruhige Hand behalten?  ■ Aus Berlin Tim Kesting

Es ist sehr spät, na ja, eher sehr früh, so gegen vier Uhr morgens in einem Sportcenter im Berliner Osten. Der Jungschützenmeister aus Druffel bei Gütersloh kann nicht mehr: Er ist sitzend k.o. auf seinem Stuhl einfach eingeschlafen. Das müsse unbedingt in den Artikel, fordert einer seiner muntereren Freunde, auch Mitglied der Darts-Fangruppe, die extra aus Ostwestfalen zum Finale des American Darts European Grand Prix angereist ist, und kippt amüsiert einen kräftigen Schluck Cola nach. Koffeinhaltige Getränke stehen hoch im Kurs: bei Zuschauern und Sportlern. Chris Kotal, mehrfacher Weltmeister in den verschiedensten Disziplinen der American Darts und als Titelverteidiger einer der Favoriten auf den diesjährigen Grand-Prix-Gesamtsieg, kann eine Menge vertragen. Muß er auch, um bei diesen ungewöhnlichen Turnierzeiten wach zu bleiben. „20 Tassen Kaffee sind nichts“, sagt er mit sanftem schwäbischen Singsang vollkommen unaufgekratzt.

Der 26jährige kommt aus Balingen, 60 Kilometer südlich von Stuttgart. Mit 12 hat er das erste Mal im Lokal seiner Eltern gedartet. Er gehört zu den ganz wenigen Deutschen, die das Pfeilewerfen professionell betreiben. Auf 2.000 Mark Preisgeld im Monat könne man schon kommen, wenn man gut sei und zwei bis drei Turniere die Woche spiele. Das sei zwar nicht viel, hinzu kämen aber noch die Gelder der Sponsoren, für die Kotal das gesamte Jahr über durchs Land tingelt, um auf Jahrmärkten, in Kaufhäusern und Spielhallen die neuesten Automaten und Pfeile vorzustellen. Jeder Ausrüster könne sich allerdings jeweils nur die Unterstützung eines weiblichen und männlichen Darters leisten. Nicht besonders viel, bei sechs auf dem deutschen Markt konkurrierenden Unternehmen.

Frank Mast zum Beispiel, immerhin Nationalmannschaftskollege Kotals aus Sandhausen bei Heidelberg, gehört trotz ähnlicher Erfolge nicht zu den Auserwählten. Neben dem zwei- bis dreistündigen täglichen Training an der Scheibe (und das ohne Coach) muß er noch seinen Job als Kraftfahrer erledigen, um finanziell über die Runden zu kommen. Trotzdem geht er auch bei seinem Nebenerwerb hochengagiert zur Sache: Wie Boris Becker zu emotionalsten Zeiten feuert er sich sowohl nach mißglückten Würfen wie auch nach einer gelungenen Triple 20 (der höchstmöglichen Punktzahl) lautstark an. Eher ungewöhnliche Töne bei einer sonst sehr ruhigen Angelegenheit.

Peter Tekook, Präsident des American Darts Verbands Deutschland (ADVD) und Ausrichter der Grand-Prix-Serie, ist sicher, daß „in naher Zukunft mehr deutsche Darter von ihrem Sport leben können“, auch wenn die Verhältnisse in Deutschland wohl nie so werden wie in Großbritannien oder in den USA, wo in jedem Pub gezockt werde. Einen Trend hat er aber ausgemacht, hin zu dieser Sportart, der immer noch der Ruf anhängt, bloß von qualmenden Bierbäuchen betrieben zu werden: „Mit Tennis hat's damals genauso unscheinbar angefangen, und die Entwicklung von Snooker hat gezeigt, was man aus einem vermeintlichen Kneipensport machen kann.“

Als Sportpromotor hat Peter Tekook einige Erfahrung mit ehemals verkannten Sportarten: Bei Boxkämpfen von Graciano Rocchigiani, Henry Maske und Frank Bruno kümmerte er sich des öfteren um das Indoor-Marketing.

Was RTL fürs Boxen, ist Eurosport fürs Darten. So in etwa zumindest. Mit fünf Kameras ist der Spartensender bei jedem der insgesamt sechs Grand Prix in deutschen Städten dabei. Die einstündigen Zusammenfassungen werden zu dartsüblicher Zeit von jeweils rund 400.000 Zuschauern allein in Deutschland gesehen. Eine ganze Menge für den Inbegriff einer medialen Randsportart.

Die europaweite Präsenz im Fernsehen veranlaßt Renate Tekook, Sportdirektorin des ADVD und Ehefrau des Präsidenten, zu fuchtelnden Armbewegungen. Sie sollen deutlich machen: Essen, Trinken und Rauchen in den vor Kameras nicht sicheren Sitzreihen unbedingt zu unterlassen. („Der Feind sieht mit! Dem Schmuddelimage keine Chance!“) Die bitternötige Cola nach sechs Stunden Finale zur Ermunterung muß heimlich geschlürft werden.

Wer behauptet, das Bull's Eye (das Zentrum der Scheibe) könne man erst nach zwei Pints Guinness genau treffen, liegt gründlich daneben. „Kampftrinker haben hier keine Chance“, sagt Peter Tekook, „die hätten überhaupt nicht die Kondition, die Nacht durchzuhalten.“ Den Eindruck, daß sich die 16 Starter (acht international gesetzte, acht qualifizierte) des Grand-Prix-Finales jeden Tag mehrere Stunden im Kraftraum quälen, machen sie allerdings auch nicht. Dem einen oder anderen kommt zugute, daß die Trikots des Veranstalters eher weit geschnitten sind. Manchem hilft auch das nicht.

Klischees hin oder her: Peter Tekook ist froh, daß der Dartssport „aus der Arbeiterklassenkiste gelöst“ wurde und alle Bevölkerungsgruppen anspreche. In welcher Kiste das Darten heute auch immer stecken mag, den letzten Grand Prix dieser Saison (2.000 Mark Preisgeld) und damit auch die Gesamtwertung (nochmals 2.500 Mark) gewinnt Frank Mast, und der ist, wie gesagt, Transportarbeiter. Da ist es bereits sieben Uhr. Und dem jungen Sportkameraden aus der Nähe von Gütersloh ist die Kistenfrage reichlich egal. Hauptsache: ab in irgendeine.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen