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„Wir haben hier 30 Gäste“

In Nordrhein-Westfalen beteiligen sich zahlreiche Kirchengemeinden an einem Wanderkirchenasyl für eine Gruppe von Kurden. Ein Drahtseilakt gegen die Angst  ■ Aus Aachen Daniela Weingärtner

Als der Junge an diesem Morgen in die karstigen Berge über Pazarcik aufsteigt, weiß er noch nicht, daß er die Schafherden seines Vaters heute zum letzten Mal sehen wird. Er sucht Trost in der vertrauten Umgebung, denn er hat gerade drei Tage im Gefängnis verbracht.

Fünf Jahre später sitzt Ilhan Kanat im schmucklosen Gemeinschaftsraum der Hubertus-Gemeinde in Aachen. Als eine Gruppe von 30 Landsleuten am 7. März von Köln nach Düren aufbrach, um ein Wanderkirchenasyl zu beginnen, hat er sich als Übersetzer angeboten. Ilhan lebt legal in der Bundesrepublik. Noch. Am 29. April soll über seinen Asylantrag entschieden werden.

Die Flugblätter hatte sein Cousin Husein ihm gegeben. Seit er zwölf war, übernahm Ilhan Botengänge für Husein und seine Freunde, die in den Bergen kämpften. Er wußte schon alles von Politik. Daß seine drei Brüder in Europa leben mußten, weil sie nicht türkischen Militärdienst gegen kurdische Landsleute leisten wollten. Daß die Soldaten seinen Vater ins Bein geschossen hatten, weil er sich weigerte, Nachbarn zu bespitzeln.

Unermüdlich übersetzt der Junge mit dem freundlichen runden Gesicht und der schwungvollen Haartolle die Lebensgeschichten seiner Landsleute. Manchmal wünscht er, sie würden es kürzer machen, sich selber, ihm und den deutschen Zuhörern Einzelheiten ersparen. Aber die Menschen, die sich zur Flucht nach vorn entschlossen haben, sind nicht zu bremsen. Sie haben Wohnung, Papiere und den Kontakt zu ihren Verwandten verloren. Sie wollen begreiflich machen, warum sie lieber alle zwei Wochen in eine andere deutsche Kirche umziehen, als in die Türkei zurückzukehren.

Zwei Jahre ging alles gut. Ein Junge fiel nicht auf, schlüpfte überall durch. Aber dann fand der Schuldirektor die Flugblätter bei ihm und rief die Polizei. Sie sperrten ihn ein. Ein Vierzehnjähriger, der Flugblätter verteilt, ist in Kurdistan kein Kind, sondern ein Staatsfeind. Sie schlugen ihn auf die Füße, spielten Erschießen mit ihm. Nach drei Tagen brachte sein Vater einen Anwalt mit und holte ihn raus.

Jeder deutsche Besucher, der nach Sankt Hubertus kommt, wird von den Erwachsenen umlagert. Sie nennen Namen, Geburtsort, die wichtigsten Lebensdaten, als stünden sie ihrem Entscheider im Asylbundesamt gegenüber. Tacim Dönekli hält beide Hände vors Gesicht, um zu zeigen, was ihm im türkischen Gefängnis widerfahren ist. So verbanden sie seine Augen bei den Elektroschocks. Wo sich sein Bruder versteckt, wollten die Folterer wissen. „Wenn du frei sein willst, sollst du Dorfschützer werden und mit den Soldaten zusammenarbeiten.“ Er wollte frei sein. Aber seine Nachbarn bespitzeln wollte er nicht. Deshalb floh Tacim nach Deutschland. Sein Asylantrag wurde abgelehnt.

Als er mit seiner Geschichte zu Ende ist, schiebt Tacim das Hosenbein hoch und zeigt die Folterspuren. Er hat seine Qualen so oft vor Fremden ausgebreitet, daß er der Überzeugungskraft seiner Geschichte nicht mehr vertraut. Aber wenn die Menschen die Narben sehen, dann müssen sie doch ein Einsehen haben, daß er dorthin nicht zurückkehren kann.

Der Spaziergang in die Berge nahe der syrischen Grenze brachte dem Jungen Ilhan seine Seelenruhe nicht zurück. Er traf Männer, die sich als Partisanen zu erkennen gaben und nach Essen fragten.

„Ich war doch noch klein“, sagt Ilhan heute. „Ich wußte gar nichts.“

Er brachte sie zur Hütte des Schafhirten und gab ihnen zu essen. Mehr Beweise brauchten sie nicht. Sie schlugen ihn mit dem Gewehrkolben auf die Stirn und hinter die Ohren. Da wußte er, daß er nicht Freunde seines Cousins vor sich hatte, sondern türkischen Soldaten in die Falle gelaufen war.

Ein Teil der Gruppe, die Anfang März mit dem Wanderasyl durch Nordrhein-Westfalens Kirchen begonnen hat, stammt aus Ilhans Dorf. Seine Cousine hat ihr Baby dabei. Es schläft in einer Ecke des Raums, den sich drei Frauen und zehn Kinder teilen. Tagsüber sind die Matratzen an den Wänden aufgestapelt, um Platz für die Mahlzeiten zu schaffen. Die Frauen hocken auf dem nackten Boden und löffeln Lammbrühe und Kartoffeln.

Vor fünf Wochen ist die 13jährige Züleyha Büyük noch in Essen zur Schule gegangen. Am 2. März wurde der Asylantrag der Familie abgelehnt. „In unserer Wohnung wohnen jetzt andere Leute“, sagt sie langsam, als versuche sie zu begreifen, daß ihr Leben so plötzlich aus den Fugen ging. Die Freunde in der Schule haben geweint. Briefe wandern hin und her, ihre Lehrerin ruft an und hat sie sogar besucht. „Ich möchte leben wie andere Leute. Eine Wohnung haben, zur Schule dürfen, spazierengehen...“ Züleyha war elf, als sie mit ihrer Familie die Türkei verließ. Sie erinnert sich, daß dort Krieg war, daß Vater und Mutter von Polizisten geschlagen wurden. Ihre Freundin Cidem hat keine Erinnerung mehr an das Leben in Kurdistan. Sie wohnt seit acht Jahren in Deutschland. Aber sie hat die Geschichten so oft gehört, daß sie zwischen eigenem Erleben und den Erinnerungen ihrer Verwandten nicht mehr unterscheiden kann. „Wenn Frieden ist, werde ich zu Fuß nach Kurdistan gehen“, sagt die Zwölfjährige und schiebt ihr Kinn noch ein Stückchen nach vorne. Die älteren Frauen nicken. Besser hätten auch sie es nicht sagen können.

Fast jeden Nachmittag geht Judith Kürten-Schneider vom Pfarrgemeinderat Sankt Hubertus mit den Kindern zum Spielplatz hinüber. Ohne Begleitung trauen sie sich nicht, das Kirchengelände zu verlassen. Einmal hat sie die Erwachsenen zu einem Spaziergang in den Wald geführt. Ein ziemlich mulmiges Gefühl hatte sie dabei. Die Verantwortung für das Schicksal von 30 Menschen macht den Helfern der katholischen Gemeinde im Aachener Vorort Verlautenheide zu schaffen. Zehn Tage werden die Flüchtlinge hier bleiben, die nächsten drei Stationen stehen fest, anschließend wollen Gemeinden in Düsseldorf und im Ruhrgebiet einspringen.

Aber was kommt danach? „Uns wird der Vorwurf gemacht, daß wir Hoffnungen wecken, die wir nicht erfüllen können“, sagt Anna Kranz, die als Sozialarbeiterin und Mitarbeiterin beim Netzwerk „Asyl in der Kirche“ Beruf und Ehrenamt verbindet. „Wir sind alle pessimistisch. Aber als Christin denke ich, es ist unsere Aufgabe, die Ängste der Flüchtlinge zu teilen. Die ganze Aktion ist ein Aufschrei: So kann man doch mit Menschen nicht umgehen!“

Viele Gemeindemitglieder kommen zum ersten Mal hautnah mit den Problemen der Flüchtlinge in Berührung. „Die Nachrichten aus Kurdistan sehen sie jetzt mit anderen Augen“, sagt Kranz. „Schon dafür hat es sich gelohnt.“ Sogar die Damen vom katholischen Altenklub zwängen sich klaglos an den Tischen im Speisesaal vorbei zum Klubzimmer. Und der Spendenkorb, den die Gemeinde im Supermarkt nebenan aufgestellt hat, ist abends voll.

Kaum eine Woche lag zwischen dem „Ja“ des Gemeindevorstands und der Ankunft der Flüchtlinge. Über praktische Probleme machen die Helfer aber wenig Worte. „Das war für mich neu, aber ich war dafür“, sagt Schwester Domitilla von den Aachener Franziskanerinnen in großer Ruhe. Weil in Nordrhein-Westfalen die Osterferien angefangen haben, gibt es zu wenige freiwillige Helfer. Ums Kochen und Aufräumen kümmern sich die Gäste zwar selbst. Sie können aber nicht einkaufen gehen oder allein zum Schulzentrum hinüberlaufen, um zu duschen.

Im Gemeindezentrum gibt es keine Duschen und nur zwei Heißwasser-Boiler. „Da bin ich rüber zum Ordnungsamt“, erzählt Anna Kranz, „und hab' gesagt: Wir haben 30 kurdische Gäste, dürfen die in der Schule duschen? Die Frau vom Ordnungsamt sagt nein, aber fragen Sie den Chef. Der Chef hat's erlaubt. Der wußte natürlich, was er da macht, schließlich liest der Mann auch die Zeitung.“

Beim Aachener Ausländeramt hat die Gemeinde eine Liste mit Namen und Geburtsdaten der Flüchtlinge abgegeben. „Die haben signalisiert, daß sie nicht eingreifen, weil Köln für die Leute zuständig ist.“ Sicher fühlen sich die Kurden dennoch nicht. Die Ungewißheit, das Wanderleben, die Angst vor Abschiebung – viele sind krank vor Sorge. „In Aachen helfen viele Ärzte umsonst“, sagt Anna Kranz gelassen. „Man muß die Leute nur ansprechen, da sagt keiner nein. Ich hatte allerdings einen Engpaß an Zahnärzten.“ Fatma, deren klares, noch junges Gesicht ein weiß umhäkeltes Kopftuch umrahmt, hört zu. Sie hat neun Kinder geboren, die älteste Tochter ist 21 und lebt – mit einem anerkannten Asylbewerber verheiratet – legal in Dortmund. Die anderen acht sind bei Vater und Mutter im Kirchenasyl. Fatma zieht ihren kleinen Sohn Samy auf den Schoß und zeigt die frische Plombe. Ein Aachener Zahnarzt hat das gratis gemacht, „eine Stunde hat er gebraucht“, erzählt sie.

Ilhan wird, seit er täglich beim Übersetzen auf seine eigene Geschichte stößt, die Magenschmerzen nicht mehr los. Der Arzt hat gesagt, er soll seinen Kummer nicht schlucken, er soll darüber sprechen. Aber wenn er es versucht, schlagen die deutschen Worte in seinem Kopf plötzlich Purzelbäume.

„Ich war ganz dumm im Kopf, von Hauen mit Gewehr. Ich wußte nix mehr.“

Schließlich ließen die Soldaten von ihm ab. Er irrte zwei Tage durch die Berge, bis sein Vater ihn fand. „Du hast den gleichen Weg vor dir wie deine Brüder“, sagte der Vater und zahlte dem Fluchthelfer 27 Millionen türkische Lira. Im Laderaum eines Lasters, hinter Stoffen versteckt, kam Ilhan in Deutschland an.

Er landete in Düren, bekam einen deutschen Vormund, machte den Hauptschulabschluß. Zwei Jahre lang lebte er in einer betreuten Wohngemeinschaft des Jugendamtes. „Da bin ich erwachsen geworden.“ Seit sechs Monaten hat er eine eigene Wohnung, lebt nun von Sozialhilfe. Gern würde er arbeiten oder eine Ausbildung anfangen, aber er muß warten, wie sein Asylantrag beschieden wird.

„Ich hab' in Deutschland gelernt, was gut und böse ist. Deutsche sind jetzt meine Verwandten“, sagt er. In Deutschland ist er zum kurdischen Sänger geworden, seine selbstgedichteten Lieder haben Strophen in türkischer, kurdischer und deutscher Sprache.

Über seine Eltern kann Ilhan nur in Liedern sprechen. Der Telefonanschluß zu Hause in Pazarcik ist tot. Seit eineinhalb Jahren hat er von ihnen kein Lebenszeichen.

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