: Der große Bruder steht schon vor der Haustür
■ Mit dem technischen Standard "PICS" wird die Netzzensur perfekt
Eigentlich sollte sich das W3-Konsortium (w3.org) um die verbindlichen Regeln zur Darstellung von Inhalten im Internet kümmern. Doch inzwischen will sich auch dieses Gremium auf dem weiten Feld der Zensur profilieren. Eigens hierzu wurde ein neuer technischer Standard zur inhaltlichen Klassifizierung elektronisch publizierter Dokumente entwickelt: PICS, die „Platform for Internet Content Selection“.
PICS unterscheidet sich in einer wesentlichen Beziehung von Zensurprogrammen, die auf dem PC zu Hause, am Arbeitsplatz oder in der Schule installiert werden müssen. Statt auf eine generelle, unflexible Liste von zensierten Websites zuzugreifen, soll die Zensur den moralischen Vorstellungen des Benutzers anpaßbar sein. Dazu bedient sich PICS eines sogenannten Rating-Systems, also thematischer Einstufungen einer Webseite, die vom jeweiligen Autor selbst vorgenommen werden. Die Bewertungen werden mittels sogenannter META-Tags im Quelltext der Webseite verborgen. Sobald eine Seite abgerufen wird, wird vom Browser geprüft, ob die gemachten Angaben mit den vom Benutzer gewünschten Kriterien übereinstimmen. Wenn dies nicht zutrifft, wird der Zugang verweigert.
Die Selbstkontrolle ist das Aushängeschild von PICS: Niemand muß mitmachen, die Bewertung der Inhalte bleibt den Webautoren vorbehalten, deren Kriterien davon abhängen, welchem Rating- System sie sich anschließen. So könnte beispielsweise eine (fiktive) „Katholische Internet-Kommission für Sitte und Anstand“ sogar verlangen, daß der Autor seine eigene sexuelle Neigung angibt.
Die Realität sieht anders aus. Hat sich ein Web-Publisher einmal für eine Bewertungsagentur entschieden, muß er deren Fragebogen ausfüllen. Wer falsche Angaben macht, hat rechtliche Konsequenzen zu befürchten, wenn es nach Meinung der Rating-Agentur „SafeSurf“ geht, die ebendieses in ihrem „Vorschlag für ein sicheres Internet ohne Zensur“ (www.safe surf.com/online.htm) fordert.
Dennoch, betonen die PICS-Erfinder immer wieder, müsse sich ja niemand für eine bestimmte Agentur entscheiden. Tatsächlich besteht aber kaum noch eine Wahl. Zur Zeit kämpfen zwei Agenturen um die Vorherrschaft auf dem PICS-Sektor. Die eine heißt „Recreational Software Advisory Council“, kurz RSACi, und ist eine mehr oder weniger gemeinnützige, in Washington ansässige Beratungsstelle für Unterhaltungssoftware. Neben Altersempfehlungen für Videospiele stellt die RSACi seit einiger Zeit nun auch Kriterien zur Einstufung von Webseiten zur Verfügung. Das Logo der RSACi dürfte jedem Surfer schon einmal begegnet sein.
Die andere Bewertungsstelle, „SafeSurf“, hat sich in der Vergangenheit mit dem Vertrieb eines Filter-Proxy-Servers einen Namen gemacht (nun glücklicherweise nicht mehr im Angebot), der unter anderem die „American Civil Liberties Union“ und die „National Coalition against Censorship“ über einen Index aussperrte. Inzwischen hat man sich für die weitaus effektivere Zensur durch PICS entschieden. Das SafeSurf-Logo stellt ein Schloß mit dem Aufdruck „SS“ dar, der frappierend an das Runenzeichen der Nazi-„Schutzstaffel“ erinnert.
Daß die von den Seitenbetreibern vergebenen Ratings auch eingehalten werden, dafür garantieren Organisationen wie die „Cyber Angels“, die das Internet nach falsch bewerteten Websites durchstöbern. Nach Meinung des Direktors der Cyber Angels würde beispielsweise die Bibel in den SafeSurf-Kategorien „heterosexuelle Themen“, „homosexuelle Themen“, „Nacktheit“, „Gewalt“ und „Intoleranz“ jeweils Stufe 5 von 9 erhalten. Das PICS-Prinzip der Eigenbewertung wird schließlich dadurch vollends ruiniert, indem es auch Dritten gestattet ist, fremde Seiten nach eigenem Gutdünken und ohne Zustimmung des Betreibers zu klassifizieren. Eine solche Drittagentur ist „Net Shepherd Inc.“, die nach eigenen Angaben schon neun Prozent des in der Suchmaschine Altavista registrierten englischsprachigen Internet klassifiziert hat. In Kooperation mit Altavista sollen nun „Familien-Suchdienste“ für interessierte Dritte aufgebaut werden, wie einer Mitteilung unter www.net shepherd.com/news&media/press releases/97may21av.htm zu entnehmen ist. Was die Netzhirten als familientauglich empfinden, läßt sich aufgrund ihrer Partnerschaft mit einer Organisation namens „Catholic Telecom“ leicht erschließen: Die christlichen Konservativen wollen mit Hilfe des PICS- Standards ihre eigenen fundamentalistischen Vorstellungen im Netz durchsetzen.
Schon jetzt ist PICS längst keine Vision einiger weniger Zensur-Fanatiker mehr. Wer den Browser „Internet Explorer“ ab Version 3.0 installiert hat, kann die Realität des großen Bruders heute schon erleben. Eine Auswahl zwischen verschiedenen Rating-Systemen hat der Benutzer bei Microsoft nicht: Es steht lediglich das Profil der RSACi zur Verfügung. Es unterscheidet zwischen vier Hauptkriterien, „Gewalt“, „Nacktaufnahmen“, „Sex“ und „Sprache“, und die Zensur beginnt schon bei den Stufen „leidenschaftliches Küssen“ oder „milde Kraftausdrücke“. Die RSACi empfiehlt ausdrücklich, nicht gekennzeichnete Webseiten zu sperren, was auch die Vorgabe beim Aktivieren des PICS-Filters ist. Da nur 43.000 Webseiten (von insgesamt mehreren Millionen) mit RSACi gekennzeichnet sind, bekommt ein Jugendlicher (oder Erwachsener) mit einem so gefilterten Zugang nur eine unbrauchbare Demoversion des Internet. Zu allem Übel hat nun auch Netscape angekündigt, seinen Browser mit PICS-Unterstützung auszuliefern, und beruft sich dabei auf das deutsche Multimediagesetz und die Wünsche der Deutschen Telekom.
Wie bei allen anderen Versuchen, unliebsame Angebote aus dem Netz auszusperren, wird auch bei PICS als primäres Argument immer wieder das Kind angeführt, das mit allen Mitteln davor bewahrt werden muß, auf einer Seite mit Titten und Schwänzen zu landen. Ein fadenscheiniges Argument, die schädlichen Auswirkungen von Pornographie auf Kinder und Jugendliche sind alles andere als erwiesen. Aber wegen der theoretisch bestehenden Wahlfreiheit der Seitenbetreiber wie der User wurde PICS bislang oft nur als wenig gefährliche und ohnehin von cleveren Kids leicht zu umgehende Variante bisheriger Zensurmethoden angesehen. Sollten sich die großen Suchmaschinen aber entscheiden, nicht bewertete Webseiten nicht mehr zu indexieren, ändert sich die Situation schlagartig. Große Teile des Netzes würden praktisch nicht mehr existieren – nur noch die Lesezeichen der einstigen Besucher verwiesen auf interessante, aber nicht klassifizierte Angebote.
Mit PICS steht der Alptraum aller Zensurgegner schon vor der Haustür: Zensur auf seiten des Servers. Dies bedeutet, daß schon am Internet-Zugang selbst und nicht erst beim Benutzer gefiltert wird. IBM hat bereits die Unterstützung für PICS in seine Serversoftware „Javelin“ und „WebTrafficExpress“ implementiert. IBM hierzu: „Mit WebTrafficExpress läßt sich PICS-Filterung auf der Serverebene etablieren. Das heißt, daß Proxy-Server-Administratoren die Weitergabe bestimmter Informationen an bestimmte Browser verhindern können.“
Diese Entwicklung kann dazu führen, daß Internet-Provider auch in Deutschland ihren Kunden „familienfreundliche“ Internet- Zugänge anbieten, deren Filter- Regeln von einer PICS-Bewertungsagentur festgelegt werden. Und wenn Seiten ohne PICS-Bewertung nicht mehr zugänglich sind, ist als weitere Folge die geistige Verarmung des Netzes absehbar. Denn die wenigsten privaten Seitenbetreiber werden die Mühen einer Klassifizierung auf sich nehmen. Kommerzielle Internet-Angebote, die Profit aus dem Netz ziehen wollen, werden diesen Aufwand aber auf sich nehmen. Nichtkommerzielle Seiten würden zunehmend unzugänglich.
Wirklich perfekt wird Internetzensur, wenn Fehlbewertungen oder gar Nichtbewertungen unter Strafe stehen. Die Möglichkeit, daß entsprechende Gesetze erlassen werden, ist auch für die EU nicht auszuschließen. Staatsanwälte hätten dann nach eigenem Ermessen das Netz systematisch nach Fehlbewertungen abzusuchen. Möglich ist auch, daß sich einzelne Staaten über nationale Firewalls vom Internet so weit ausschließen, daß nicht PICS-gemäße Webseiten nicht abgerufen werden können – eine verlockende Perspektive für Diktaturen, die das Internet zwar kommerziell nutzen, aber keine Informations- und Meinungsfreiheit dulden wollen. Erik Möller
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