Piepiepiep, ich hab Euch lieb

■ Fröhliches Melodienraten: Der BUND geißelt nicht nur Umweltverbrechen, sondern fördert die Liebe zur intakten Natur, zum Beispiel durch ornithologische Expeditionen durch den Bürgerpark

as Ohr des Zivilisationsmenschen ist eine hochperfektionierte Präzisionsapparatur. Selbst in der einsamen Abgeschiedenheit eines fensterlosen Badezimmers kann er genau erhorchen, ob der Bruder-BMW oder der Tanten-Astra heranbraust. Und vierjährige Nachbarsjungen sind sogar gemeinhin in der Lage, den Pappi-Golf (118 PS) vom Mammi-Golf (54 PS) zu unterscheiden. Mit den feinen akustischen Differenzen zwischen Leoparden-Gebrüll und Dackel-Gebell tun sie sich schon schwerer. Und wenn es erst die Vögelschar auseinanderzuhalten gilt, die im Monat April die Musik bestimmt, macht sich allseits Konfusion breit. Allein die Meisenarten: Sumpf-, Tannen-, Weiden-, Hauben-, Blau-, Kohlmeise. Eine Vielfalt, deren Überforderungspotential demjenigen der Wurstauswahl in der Supermarkttheke nahekommt. Und Finken, Rotkehlchen und diverse Spechtsorten gibt es schließlich auch noch. Und Seidenschwänze. Und Zilpzalps...

So herrscht denn auch meistens Unklarheit darüber, welche Vögel es denn sind, die uns allmorgendlich zwitschernd aus unseren (Bett)Federn werfen.

Wer die organischen Weckuhren endlich benennen können möchte und es darüber hinaus stilvoll findet, bei einem Parkspaziergang stehenzubleiben, versonnen zu lauschen und einem staunenden Begleiter zuzuraunen „Ah, eine Heckenbraunelle“, der bekommt Hilfe vom Bund für Umwelt- und Naturschutz. Im Schnitt etwa dreimal wöchentlich finden sich Menschen in Rhododendronpark oder Wümmewiesen ein, um unter fachkundiger Anweisung das polyphone Stimmenwirrwarr zu lichten. Ist das Wetter erbärmlich, erscheinen etwa drei Interessierte, bei strahlender Sonne dagegen schon mal 35. Vögel sind in ihrem Zwitschern durch Regen nicht zu bremsen, Menschen schon.

Durch die Bürgerweide führt meistens die sympathische Frau Siems mit viel Ruhe und Geduld. Am Tümpel vor der Meierei stellt sich dann schnell Zuversicht ein. Obwohl es mit der vertrackten Singdrossel losgeht. Anders als aktuelles Sportstudio, Lindenstraße oder Marsriegel hat dieser tückische Vogel nämlich keine unveränderliche Erkennungsmelodie – stattdessen viel Freude am Wechsel. Nur gut, daß er jedes Melodiefragment immerhin drei- oder viermal wiederholt. Außerdem ist er zu identifizieren an seinem wunderbar sonoren Mezzosopran. Die Cecilia Bartoli unter den Vögeln. Der Zaunkönig-Winzling dagegen plärrt vorlaut, um nicht zu sagen unkultiviert, und in der Melodiefindung ein wenig einfältig – mehr Punk als Mozart. Auch die Blaumeise singt melodisch reduziert, eigentlich nur einen bescheidenen Triller, den aber dafür mit wundersamer Feinheit.

Bereits nach einer viertel Stunde ist klar, daß endlos viele Parameter beim Klassifizieren beachtet werden müssen: Lautstärke, Tonhöhe, Intervalle, Konstanz. Außerdem kommunizieren Vögel am Morgen anders als am Mittag, im Frühjahr anders als im Herbst, zur Warnung anders als zur Balz, am Bodensee anders als auf Juist – ja, es gibt auch bei den Vögeln Regionaldialekte, als bayerische Blaumeisen und pfälzische Blaumeisen. Wie ein Jazzer gönnen sie sich improvisatorische Freiheit. Und manchmal murmeln, schmatzen und schnalzen sie einfach mal free style ins Blaue hinein. Und so herrscht bald Klang-Chaos im Hirn. Ganz besonders hinterhältig sind jene Geschöpfe, die den Gesang ihrer Kollegen nachahmen. Kabarettisten unter den Vögeln? Bernhard und Hans-Jürgen Vogel imitieren sie aber nicht. Auch Monika Siems gesteht, sich immer mal wieder hinters Licht führen zu lassen.

Einmal früh aus dem Bett wälzen macht also noch lange keinen Vogelkundigen. Und dennoch kann man auf einer Vogeltour ein paar elementare Erkenntnisse über Vögel und das Leben überhaupt erwerben. Auch in Büschen und Bäumen gilt: Die Kleinsten plärren oft am lautesten. Und auch das antithetische Funktionieren des Daseins läßt sich gut beobachten. Flüstert zum Beispiel jemand entzückt „Die Rotkehlchen pfeifen heute aber allerliebst“, dann verstummen sie auf der Stelle. Erstaunt ist der Stadtmensch aber vor allem über die Vielzahl der Arten. Irgendwie scheint in Bäumen, Flüssen, Erdboden doch trotz Chemie und Monokultur mehr Leben zu wuseln als man ahnte. Und diese Erfahrung ist Sinn und Zweck der ornithologischen BUND-Aktivitäten. Schließlich wissen immer weniger Menschen, was da eigentlich gefährdet ist. Und Pandabär, Wal und Robbe liegen vielen mehr am Herzen als der unbekannte, namenlose Singvogel vor der Tür.

Wer allerdings Sicherheit im Unterscheiden gewinnen will, bis es zum „Oh, eine Heckenbraunelle“reicht, muß öfter kommen. Tun auch viele. Und so begrüßt Monika Siems bei jeder Führung einige alte Bekannte. Was ist es, das doch recht viele Leute früh morgens in die gebändigte Stadtnatur zieht? Wohl die Freude an geduldiger, konzentrierter, focusierter Wahrnehmung, ähnlich wie beim Billardspielen oder beim Pilzesuchen. Der Blick folgt dem Finger von Monika Siems, sieht eine grüne Wand, Blatt, Blatt, Blatt, und plötzlich schält sich ein Vogeltupfen heraus. Erfolg.

Aber Vorsicht. Die lauschigen Spaziergänge bergen Suchtgefahr. Monika Siems selbst hat es vor 11 Jahren bei einer Vogelführung erwischt. Noch ein harmloserer Fall. Aber manches Mitglied der ornithologischen Gesellschaft setzt sich in den Wümmewiesen vor ein Spektiv und zählt Pfeifenten, bis zu 5400 Stück. Für Wissenschaft und Umweltschutz sind solche Meditationsübungen wichtig, Monika Siems hat dazu aber keine Lust. Vielleicht, weil sie eine Frau ist. Männer dominieren die Vogelkunde nämlich eklatant. Auf einer Tagung errechnete Siems einmal ein Verhältnis von 100:3. Ihre Erklärung: „Wahrscheinlich haben Männer einfach mehr Zeit für ihre Hobbys.“Ein schöner Satz, der auch Alice Schwarzer gefallen würde. bk/Foto: S.Pfützke

Termine im MIX und beim BUND, Tel. 790020.