: Geilheit mit Tomatensauce
■ Das Quartett Boll/Denk/Jürgens/Dullemen zeigte, warum es hochgerühmt ist
bend für Abend schieben sie sich gebrochen und steif durch eine Luke in ihr Kellerloch. Es ist das Souterrain einer feindlichen Außenwelt, die Menschen zu Stereotypen vestümmelt, und es wird zum Schauplatz mechanischer zwischenmenschlicher Tristesse. Barockmusik ertönt, Bach suggeriert hier harmonisches Gleichmaß, doch die Begegnungen der Menschen um den abendlichen Essenstisch sind von resigniertem Einverständnis mit den Dingen geprägt. Im immergleichen abgezirkelten Ritual lassen sie sich am Tisch nieder, so als hätten die Stühle ein Gewinde, in das man sich gleich mit einschraubt. Tischtücher werden gespannt, Löffel poliert, Essen wird verteilt. Der Höhepunkt des Tages, zweifellos: Eine Dose Hering in Tomatensauce. Klecksweise landet ihr Inhalt auf jedem Teller, und allein an den verteilten Mengen ist auszumachen, welche Gefühle diese Menschen zueinander haben.
„In Antwort auf Ihr Schreiben“ist eine tief ironische, heiter-skurille Bestandsaufnahme eines entleerten Alltagsregelwerkes. Mit der Coproduktion des „Springdance Festival Utrecht“und des „Grand Theater Groningen“hatten die vier ChoreographInnen Andrea Boll, Andreas Denk, Klaus Jürgens und Mischa van Dullemen zuletzt im Mai 1997 in der Hamburger Kampnagel-Fabrik überraschenden Erfolg, der am Sonnabend mit ihrem Eröffnungsgastspiel des „Springfire Festivals“der Oldenburger Kulturetage eindeutig bestätigt wurde.
Die Choreographie ist eine Abfolge festgelegter Funktionen, in denen die Menschen einander zum Objekt werden: Ein Kopf wird am Mund herrübergezerrt, Körper verwringen sich zu anpassungsfähigen Möbeln, damit der zackige Patriarch der Runde geruhsam sein Strickzeug bedienen kann. Das Souterrain ist ein mörderischer Ort bürgerlicher Wohlanständigkeit, seine schreiende Sprachlosigkeit bricht sich im Körper der Frau. Sie wendet ihre hilflose Aggression gegen sich selbst. Ein anderer führt gestisch Selbstgespräche. Doch plötzlich gefriert die Szene: Tatsächlich, Augenpaare haben sich ineinander verfangen, die Menschen schauen sich an, und von diesem Augenblick an beginnen sich die festgelegten Muster unmerklich zu verschieben.
Mit einem Heimkehrer schiebt sich plötzlich ein riesiges Radio in den Raum und bringt die angestammte Ordnung ins Schleudern. Der Tisch wird nun hochkant zum Separée für ein kleines Tête-a-Tête, wird zur Rutschbahn und zum Lotterlager. Die Frau liegt da. Ein zweiter Heimkehrer stopft ihr Früchte in den Mund und in den Ausschnitt. Aus einer Kaffeekanne fließt Milch über die Körper. Zum lustvollen Schlecken ertönt „Wenn der Willy mit der Milly“, und Milly dreht ganz schön auf, windet sich in einem aufgeilenden orientalischen Tanz auf dem Tisch. Und die Männer zu ihren Füßen? Sie stricken, einträchtig verschreckt von so viel erotischer Power. Doch auch in ihnen ist bald Geilheit entfacht. Sie lassen sich zu einem Tanz verleiten – irgendwo zwischen Gymnastik und Onanie bis zur Entladung im synchronen Gerammel an Tischbeinen, Stühlen und Besteckkästen.
Die Frau verbirgt das nackte Gesicht ihrer Sehnsüchte, und die vier Akteure treffen sich wieder bei der abendlichen Fischkonserve. Experiment Leben gescheitert. Bonjour Tristesse. Marijke Gerwin
Springfire: Bis zum 29. April in der Kulturetage Oldenburg. Das nächste Gastspiel bestreitet die „Zwieback Company“mit „Glauser“am 24. April um 20.30 Uhr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen