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Von Diogenes bis Effenberg

Interdisziplinäres Forschungsprojekt an der TU arbeitet an einem „Berliner Lexikon der Alltagsgesten“ und einem Sensorhandschuh zur Gebärdenerkennung  ■ Von Ute Scheub

Woher wußte Fußballer Stefan Effenberg, wie man den Stinkefinger macht? Das ist eine Frage, auf die die Wissenschaft bislang keine Antwort weiß. Obwohl sie – zumindest in einem interdisziplinären Forschungsprojekt der Technischen Universität, das sich gestern vorstellte – schon weit fortgeschritten ist bei der kulturgeschichtlichen Einordnung der Gebärdensprache.

Der Stinkefinger also ist, glaubt man Reinhard Krüger und Roland Posner von der TU-Arbeitsstelle Semiotik, ein Zeichen für den erigierten Penis, das schon Diogenes in seiner Tonne gekannt und angewendet habe: „Soll ich ihn zeigen?“ Doch im 4. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung sei die obszöne Geste plötzlich verschwunden. Die Ärzte, die den längsten aller Finger gleichzeitig als Salbenfinger benutzt hatten, wechselten zum Ringfinger über, um ja keinen Ärger zu kriegen. Wieso also konnte der Stinkefinger in diesem Jahrhundert wiederauferstehen? Wer hat ihn weiter heimlich 1.600 Jahre lang gezeigt? Wer brachte ihn Effenberg bei?

Es war eine vergnügliche Wissenschaft, die da gestern von vergnügten Wissenschaftlern vorgestellt wurde. Sinn der Übung: Daraus soll ein „Berliner Lexikon der Alltagsgesten“ entstehen und nach jetziger Planung Ende 1999 veröffentlicht werden. Für die rund 150 verschiedenen Gestenfamilien, die dortselbst in ihren Unterarten, ihrem Bewegungsablauf, ihrer Bedeutung und Herkunft beschrieben werden sollen, sind in der Langfassung 1.000, in der Kurzfassung 150 Seiten vorgesehen. Außerdem soll eine CD-ROM produziert werden. Dies nun nicht etwa, weil den Berlinern eine besonders ausdrucksstarke Gebärdensprache zur Verfügung stünde. Trotz der hier besonders oft und besonders heftig grassierenden schlechten Laune gebe es „keine spezielle Berliner Körpersprache“, stellte der Literaturhistoriker Reinhard Krüger klar. Die in Berliner Kneipen und auf Berliner Autostraßen sichtbaren Gesten seien Bestandteil eines mehr als 50.000 Jahre alten „indoeuropäisch-mediterranen-semitischen Kulturkreises“. Schließlich seien die Gebärden älter als jedwede gesprochene Sprache, die aus ihnen erst hervorgegangen sei. Ihre Bedeutung könne aus alten Textquellen, aus Fresken, Malereien und Gebrauchsgegenständen rekonstruiert werden.

Auch das Zeichen für den gehörnten Ehemann, der erhobene kleine und Ringfinger bei ansonsten geschlossener Faust, sei wahrscheinlich eine uralte Jagdgebärde. Womöglich hätten sich damit die steinzeitlichen Jäger verständigt, daß um die Ecke ein fetter Stier warte. Auf etruskischen Fresken finde man die Hörnerfinger bei orgiastisch tanzenden Paaren, die danach „zu nicht mehr darstellbaren Handlungen“ übergegangen seien. Der jüdische König David sei mit dem Stierzeichen als Zeichen der Macht begrüßt worden, ebenso der vorderasiatische König der Sassaniden. Auch sprachlich seien die Hörner und die Krone eng miteinander verwandt. Wie aber konnte, o Wunder des Alltagslebens, aus dem gekrönten König der gehörnte Ehemann werden? Das Verbindungsstück laute wohl: „Der Mann wird wütend bis in die Hörner“, vermutete Literaturhistoriker Krüger. In Sizilien sei es jedenfalls bis heute noch hochgefährlich, diese Geste in Anwesenheit des Ehemanns zu machen.

Manche Gesten werden nun mal in speziellen Regionen auch sehr speziell eingeordnet. Massimo Serenari, ebenfalls von der Arbeitsstelle für Semiotik, schritt zum praktischen Journalistentest: Wird die ostdeutsche Handbewegung „sich einen Orden anstecken“ verstanden? Eindeutige Antwort: nein. Oder das Wichtiges-Gesicht- Ziehen, die türkische Aufforderung zum Gesprächsanfang? Eindeutige Antwort: nein. Weit abgeschlagen landete hier die Journaille hinter der Westberliner Jugend, die die Mimik nach den Umfrageergebnissen der Gestenforscher immerhin zu zu 60 Prozent verstand. Von den ostdeutschen Jugendlichen wußten allerdings auch nur 33 Prozent die richtige Interpretation. Das Gebärdenlexikon ist indes nicht der einzige große Wurf, an dem man in dem interdisziplinären Forschungsprojekt bastelt. Frank Hofmann hat dort einen Handschuh entwickelt, der mit speziellen neuen Sensoren bestückt ist und mit dem alle Hand- und Fingerbewegungen elektronisch übesetzt werden können. Die so gewonnenen Daten können mit den Stichworten des Lexikons kurzgeschlossen werden. „Damit“, so hieß es euphorisch, „ist der Einsatz von Gebärden im Cyberspace, aber auch die automatische, EDV-gestützte Übersetzung von Gehörlosensprache in Wort und Schrift in greifbare Nähe gerückt.“

Zu all dem wird es ab heute ein sicherlich höchst gebärdenreiches internationales Symposium geben. Thema: „The Semantics and Pragmatics of everyday Gestures“.

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