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Versöhnungsfrucht Papaya

Rose Bilbool produziert aus Obst Shampoo und Heilmittel. Und ganz nebenbei sorgt sie für mehr Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern

Von Georg Baltissen

Die erste Papaya erwarb sie für den Tageslohn von einem Shilling, 1940 in Jericho. „Sechs Stunden mußte ich damals dafür im Straßenbau Steine klopfen“, erzählt Rose Bilbool, examinierte Apothekerin und Doktorin der Biochemie. Noch am selben Tag aber wurde sie entschädigt. Sie lernte die heimliche Heilkraft dieser Melonenfrucht kennen. „Ein britischer Offizier war mit seinem Jeep aus der Kurve der Schotterpiste zwischen Jerusalem und Jericho geflogen. Er hatte tiefe Schnittwunden und wäre bis zur Rückkehr nach Jerusalem verblutet“, erzählt sie. „Ich wußte, daß man die Wunde feucht abdecken muß, um ein Blutgerinnsel zu verhindern, aber es gab nirgendwo Wasser. Also habe ich die Papaya zerteilt und eine Hälfte auf die Wunde gelegt. Geschlossene Früchte sind ja steril.“ Dem Mann rettete sie das Leben. Für sich entdeckte Rose Bilbool eine Passion, die ihr den Spitznamen „Dr. Papaya“ einbrachte.

Die Briten hatten noch mehr Grund, ihr dankbar zu sein. Und sie ihrerseits der Entdeckung der Papaya. Während des Zweiten Weltkriegs mangelte es den Alliierten, die in Palästina ihre in Nordafrika verwundeten Soldaten behandelten, an Anästhesiemitteln. Die Versorgung per Schiff war abgeschnitten. Dr. Bilbool gelang es, mit Hilfe von Papain, einem Extrakt der Papaya, ein Ersatzmittel zu produzieren. Ein Schreiben der britischen Regierung würdigt ihre kriegswichtigen Anstrengungen. „Darauf bin ich sehr stolz“, sagt sie lächelnd.

Als einzige Jüdin, die im palästinensischen Autonomiegebiet ein Unternehmen führt, ist sie in den vergangenen vier Jahren zu einer Art exotischer Berühmtheit geworden. Dabei fährt Dr. Bilbool seit mehr als einem Vierteljahrhundert Tag für Tag von Jerusalem nach Jericho. Rund 700.000 Kilometer hat sie mit ihrem alten Volvo inzwischen zurückgelegt, jedesmal vom 900 Meter hoch gelegenen Jerusalem in das 400 unter dem Meeresspiegel liegende Jericho. Ihr Gehör hat darunter gelitten. Aber nicht einmal ihr stolzes Alter von 85 Jahren oder sommerliche Temperaturen von 45 Grad haben sie aufhalten können. „Die Papayas sind deine heimliche Liebesaffäre, hat mein Mann immer gesagt“, erzählt die alte Dame.

1971 mietete sie in Jericho eine verlassene Villa und zehn Hektar Land von einem palästinensischen Eigentümer, der nach Jordanien geflohen ist. 380 Papayasträucher kann sie darauf anpflanzen. Anfänglich verkauft sie die wohlschmeckenden Früchte an vornehme Hotels in Jerusalem. Doch dann wird das orthodoxe Rabbinat hellhörig. Monatelang verbietet es den Verzehr von Papayas, weil es daran zweifelt, daß sie koscher sind. Also karrt Rose drei ehrwürdig mit Hut gekleidete Rabbiner in ihrem Volvo in das staunende Jericho. Vor Ort befindet das Rabbinat dann, daß es sich bei der Papaya sehr wohl um eine koschere Strauchfrucht handelt.

Überzeugt von der Heilkraft der Pflanze, aber auch unter wirtschaftlichem Druck gelingt es Rose Bilbool schließlich, aus dem Papain Cremes, Shampoos und Pillen herzustellen, die inzwischen an zahlreiche biologische Kosmetikketten verkauft werden. Die Pillen helfen gegen alle Arten von Magenbeschwerden, und mit dem Shampoo putzt sich Dr. Bilbool sogar die Zähne. „Es hat so viele Enzyme, zehnmal mehr als die Papayas an anderen Orten. Das ist gut fürs Zahnfleisch“, sagt sie. „Außerdem senkt Papain den Cholesterinspiegel und enthält alle Vitamine, die wir kennen oder auch nicht kennen.“

Rose Perl, so ihr Mädchenname, stammt aus Nordtranssylvanien in Rumänien. Nach dem Studium in Bukarest kam sie 1938 mit einem Touristenvisum in das britische Mandatsgebiet Palästina, um an der hebräischen Universität ihren Doktortitel in Biochemie zu erwerben. Rumänische Kommilitonen hatten ihr nach ihrer vom Dekan hochgelobten Examensprüfung aufgelauert, eine hebräische Zeitung unter die Nase gehalten und sie mit den Worten „du dreckige Jüdin“ aufgefordert, das Blatt zu lesen. Noch heute ist über ihrer linken Augenbraue die tiefe Narbe zu erkennen, die ein Schlagring der Jungfaschisten von der „Eisernen Front“ damals hinterließ. „Meine einzige Sünde ist, daß ich Jüdin bin“, sagt sie.

Sie verläßt ihre Heimat trotz Einwendungen der besorgten Eltern. Der Großteil der begüterten Familie eines Bauunternehmers wird nach der deutschen Besetzung in Auschwitz vergast. Ihre Schwester, eine Ärztin, die mit Josef Mengele arbeiten muß, nimmt nachts bei KZ-Insassinnen illegal Abtreibungen vor, um sie vor der Vivisektion zu retten. Sie überlebt das Konzentrationslager und wird später in den USA die erste Gynäkologin, die eine künstliche Befruchtung erfolgreich durchführt. Haß ist Rose dennoch fremd. „Ich habe 15 Jahre kein Deutsch geschrieben und kein Deutsch gesprochen. Aber dann habe ich Frieden mit mir selbst gemacht“, sagt sie. „Mit Haß kann man nicht leben.“

Nach dem Krieg, der ihr zu einem gewissen Reichtum verholfen hat, heiratet Rose einen irakischen Juden und läßt sich in Beirut nieder. Ihren beiden Kindern verwehrt die libanesische Regierung die Ausstellung eines Passes. Sie beantragt die US-Staatsbürgerschaft und legt den Brief der britischen Regierung über ihre Kriegsverdienste bei. Vier Monate später wird der Familie ein amerikanisches Dokument ausgestellt. Die Familie lebt nun abwechselnd in Beirut und New York.

Doch mit der Ankunft der PLO in Beirut in den Jahren 1970/71, nach der Niederlage im jordanischen Bürgerkrieg, ändern sich die Zeiten. Obwohl libanesische Firmen der Familie eine dreiviertel Million Dollar schulden, wollen sie nicht bezahlen. „Wer wird denn noch einem Juden Geld geben in diesen Zeiten“, sei die Antwort der ehrbaren Herren gewesen, sagt Rose. Da habe sie wie 1938 gewußt, daß es Zeit sei zu gehen. Die Familie kehrt mit wenigen Habseligkeiten und geschmälertem Vermögen nach Jerusalem zurück.

In Jericho wird sie heute ehrfurchtsvoll „Dottore“ genannt. Familien mit jedweden Sorgen kommen zu ihr. „Wo ich helfen kann, helfe ich“, sagt Rose Bilbool. „Wir sind alle nur Menschen, und keiner hat sich seine Eltern aussuchen können.“ Selbst während der Intifada, als Autos mit israelischen Kennzeichen grundsätzlich von Steinen beworfen wurden, ließ sich Rose Bilbool nicht einschüchtern. Eines Morgens zu Beginn des Palästinenseraufstands erwartete sie am Rondell in Jericho eine Barrikade. Davor standen mit Steinen bewaffnete palästinensische Jugendliche. „Einen Moment habe ich überlegt, ob ich weiterfahren sollte“, sagt die „Dottore“, „aber dann habe ich gedacht, wenn ich jetzt umkehre, kann ich nie wieder in Jericho arbeiten.“ Also näherte sie sich in ihrem Volvo langsam der Barrikade und sagte den Jugendlichen höflich, sie sollten die Steine aus dem Weg räumen. „Einer der Jugendlichen“, so Rose Bilbool erkannte mich und rief: Das ist die Dottore, die uns immer Kuchen mitgebracht hat.“ Danach durfte sie passieren.

Auf die Idee mit dem Kuchen war sie gekommen, als sie noch Papayas an das Hotel Hilton in Jerusalem lieferte. Eines Tages sah sie, wie dort Tüten voller Kuchen und Semmeln in den Abfall geworfen wurden. „Ich sagte den Leuten im Hotel, gebt sie mir. Es gibt Kinder in Jericho, die haben so etwas noch nie gesehen.“ Fast ein Jahr lang verteilte Rose Bilbool fast ein Jahr lang jeden Samstag vor den Schulen in Jericho die Semmeln und die Kuchenteilchen. Nach einem palästinensischen Angriff auf eine israelische Schule, bei dem 16 Kinder getötet wurden, stellte das Hotel die Lieferung ein. Dennoch hatten selbst die Kinder der Intifada die Wohltaten von Rose Bilbool nicht vergessen. „Es gibt ein arabisches Sprichwort“, sagt Rose zur Erklärung: „Tu Gutes und wirf es ins Meer. Es wird zu dir zurückkommen.“

Als eines der ersten palästinensischen Gebiete wird Jericho 1994 autonom. Für Rose Bilbool geht das nicht ohne Probleme ab. Die Stadt sperrt ihr ohne Erklärung das Wasser. Und ein Angestellter der Landbehörde sagt nicht ihr, sondern dem Vater eines ihrer Angestellten, sie müsse ihr Land innerhalb von 48 Stunden räumen.

Dr. Bilbool wendet sich an Saib Erekat, palästinensischer Verhandlungsführer mit Israel und Einwohner Jerichos. Zwar wird ihr Mietrecht um ein Jahr verlängert, doch außer wohlklingenden Worten hört sie nichts. Seitdem prozessiert sie gegen die „Entmietung“ durch die Erbengemeinschaft, die Land und Haus verkaufen will. Gegenwärtig forscht sie an einem homöopathischen Mittel, das sie aus den Blüten der männlichen Papaya gewinnt. Es soll gegen Herzbeschwerden helfen.

„Wenn du dich an Schwierigkeiten gewöhnst, kannst du glücklich werden“, zitiert Rose Bilbool ein altes jüdisches Sprichwort.

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