: Heimkehr in ein fremdes Land
Jeder Jude müsse in
Israel leben, behaupten Zionisten noch heute. Dennoch werden schwarze Äthiopier und Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion kaum integriert
Von Georg Baltissen
Ihre dunklen Augen leuchten. Die neunjährige Imai Schaba und ihr kleinerer Bruder haben es geschafft, sie sind im gelobten Land angekommen. Verwandte, die sie seit Jahren nicht gesehen haben, nehmen sie in Empfang. Ein paar Tränen fließen vor Glück. Auch bei den Eltern, die ernst, fast skeptisch in die neue Zukunft blicken. Alle haben ihre besten Kleider angezogen. Mitglieder der Zionistischen Weltorganisation sind zur Stelle, Vertreter des Einwanderungsministeriums, der Jewish Agency, des Gesundheitsministeriums. Kleider, Spielzeug und Haushaltsgegenstände liegen sortiert auf verschiedenen Haufen bereit. Freiwillige haben die Spenden herbeigeschafft. Die Neuankömmlinge brauchen sich nur zu bedienen. Doch das Paradies erwartet sie nicht.
Jeden Sonntag landen derzeit 120 bis 130 Falasch-Mura, im Direktflug aus Addis Abeba oder auf dem Umweg über Kairo und Athen, auf dem Ben-Gurion- Flughafen in Tel Aviv. Die Falasch-Mura, vor hundert Jahren zum Christentum konvertiert, gehören zu den letzten 1.500 äthiopischen Juden, für die die „Heimkehr“ ins gelobte Land zumindest eine Befreiung aus dem Auffanglager in Addis Abeba ist. Doch in Israel erwartet sie eine karge Containersiedlung. Sie sind Schwarze in einem weißen Land.
Die verwahrloste Siedlung Givat Hamatos im Süden Jerusalems hätte eigentlich schon lange aufgegeben werden sollen. Doch die erneute äthiopische Einwanderung hat eine Renovierung des Lagers, das einst sowjetischen Einwanderern als erste Zufluchtsstätte diente, notwendig gemacht. Wohncontainer von zwölf Quadratmeter Größe stehen an einem Berghang im Abstand von zwei bis drei Metern. Nach jedem Regen ist das Lager überflutet. Große Pfützen bilden sich auf den Zwischenwegen. Schutz vor der Frühjahrshitze gibt es auch nicht. Zwar sind im Gegensatz zu früher zahlreiche Helfer im Einsatz. Und die Spenden aus der Bevölkerung für die neuen Siedler sind überraschend umfangreich. Doch willkommen sind die Schwarzen längst nicht überall. Außer Jerusalem und Haifa haben sich nur noch ein paar Siedlungen im Westjordanland bereit erklärt, schwarze Einwanderer aufzunehmen.
Das hat auch religiöse Gründe. Die Halacha, das jüdische Gesetz, ist den Falaschas ein Buch mit sieben Siegeln. In einem dreimonatigen Kurs werden sie von einem orthodoxen Rabbiner unterwiesen. Erst nach einer anschließenden Prüfung ihres religiösen Wissens dürfen sie sich dann als Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft betrachten.
Vorerst aber stehen andere Sorgen im Vordergrund. Der 48jährige Aino Almusch sieht seine Frau und sein Kind zum ersten Mal nach sieben Jahren. Seine Einzimmerwohnung in Haifa hat er aufgegeben. Mit den drei Kindern aus der ersten Ehe seiner Frau will er zwei Wohncontainer in einem Einwanderungslager beziehen. 250 Schekel, umgerechnet etwa 125 Mark, werden den Einwanderern am Flughafen in die Hand gedrückt. Monatlich erhalten sie nochmals 180 Schekel Taschengeld. Zum Leben reicht das nicht. Sprach- und Umschulungskurse sind zwar kostenlos. Doch wenn die Einwanderer nicht schnell Arbeit finden, sind sie oft auf Jahre zum Leben in der Containersiedlung verdammt.
Angefangen hat es 1984 mit der geheim und generalstabsmäßig geplanten Operation „Moses“. 6.000 Falaschas wurden damals nach Israel geflogen. In den folgenden fünf Jahren ging diese sogenannte stille Auswanderung weiter. 7.000 Falaschas erreichten die Gestade des Mittelmeers. Operation „Salomon“ brachte dann in den Jahren 1989 und 1990 weitere 11.000 Äthiopier nach Israel. Bis zum vergangenen Jahr kamen schließlich nochmals 25.000 Falaschas ins Land. Rund 13.000 sind bereits in Israel geboren. Ihre Gesamtzahl wird jetzt auf 60.000 Personen geschätzt. Doch ihre schwarze Hautfarbe und ihre jahrhundertelange Isolation machen die Falaschas noch immer zu Außenseitern der israelischen Gesellschaft. „Wenn die Regierung denkt, sie hat ihre Arbeit getan, ist sie im Irrtum. Ihr Job hat gerade erst angefangen“, sagt Adisu Massala, der einzige äthiopische Abgeordnete im israelischen Parlament.
Die Saga der äthiopischen Einwanderung mag einzigartig sein, zahlenmäßig bedeutend ist sie jedoch nicht. Mit rund 850.000 Immigranten seit 1989 stellen die „Russen“, die Einwanderer aus der früheren Sowjetunion, die größte ethnische Gruppe unter Israels Juden. 16 Prozent beträgt derzeit ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung von rund 5,8 Millionen. Die meisten kamen in den Jahren 1990 und 1991, nach dem Ende der UdSSR.
Wladimir Schklar kam vor acht Jahren aus Leningrad, zusammen mit seiner Frau und der damals neunjährigen Tochter Alexandra. Seine Hebräischkenntnisse beschränkten sich damals auf den Gruß „Schalom“. Dennoch fand er Arbeit in seinem erlernten Beruf. Der vierzigjährige war Fechtlehrer. Heute ist Schklar Direktor der Elite-Sportabteilung in der Jerusalemer Stadtverwaltung – und einflußreicher Politiker obendrein. Bei der nächsten Stadtratswahl im November will er für den Posten des stellvertretenden Bürgermeisters in Jerusalem kandidieren, hinter Ehud Olmert, dem amtierenden Bürgermeister des konservativen Likud-Blocks, allerdings auf einer eigenen unabhängigen Liste. „Wir wären ein unschlagbares Team“, sagt Schklar. Schon bei der letzten Stadtratswahl hat er die Stimmen der russischen Immigranten für Olmert organisiert. Nach einer Umfrage unter russischen Immigranten ist er nach Industrieminister Nathan Scharansky und Einwanderungsminister Juli Edelstein der beliebteste russisch-israelische Politiker. Doch im Gegensatz zu den beiden lehnt Schklar eine Parteienbildung nach ethnischen oder religiösen Kriterien ab. Er setzt auf eine vollständige Integration der Einwanderer in die israelische Gesellschaft. Damit aber steht er unter der Mehrheit der Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion ziemlich allein.
Mehr als sechzig Prozent der russischen Einwanderer sprechen nach einer Erhebung des Einwanderungsministeriums ausschließlich oder hauptsächlich ihre Muttersprache Russisch. Nur zehn Prozent geben an, fünf Jahre nach ihrer Einwanderung überwiegend Hebräisch zu reden. In „Israel Ba-Alija“ haben die Einwanderer eine eigene Partei, die mit sieben Abgeordneten und zwei Ministern in Parlament und Regierung vertreten ist. Segregation ist für sie kein Schimpfwort, sie bleiben ganz einfach unter sich. Sie haben ihre eigenen Geschäfte, russischsprachige Zeitungen, eigene Radiosender und drei Satelliten-Kanäle, die Fernsehprogramme aus der ehemaligen Heimat übertragen. Koscher essen ist meist nicht ihre Sache. Die strengen religiösen Vorschriften und Rituale der jüdischen Religion betrachten sie eher als Folklore. Am Schabbat versammelten sich bis vor kurzem viele russische Immigranten im armenischen Viertel der Altstadt und tranken dort ein Bier. Seit die Polizei dieser „Schabbatschändung“ ein Ende machte, weichen sie mit ihren Bierdosen auf umliegende Grünflächen und Parks aus.
Das „Russenbild“ in Israel ist nicht eben positiv. Ein Drittel bis zur Hälfte aller Prostituierten stammt angeblich aus der früheren Sowjetunion. Und russische Geschäftsleute werden häufig mit der russischen Mafia in Verbindung gebracht. Aus- und Abgrenzung findet auf beiden Seiten statt.
Dennoch gibt es Erfolgsstories über die Integration russischer Einwanderer. Da sind die 15 Weltklasse-Mathematiker, die im „Institut für Industrielle Mathematik“ in Beerscheba arbeiten und am Computer praktische Lösungen für komplexe wirtschaftliche und industrielle Vorgänge suchen. Noch wird das Institut von der für die „Sammlung der Exilierten“ zuständigen Jewish Agency und dem Einwanderungsministerium subventioniert. Doch stehen millonenschwere Aufträge ins Haus. Da sind die russischgeführten Handelsfirmen, die Lebensmittel, Carmel-Weine oder Süßigkeiten für Hunderttausende Dollar aus Israel in die neuen GUS-Republiken exportieren. Und da sind die Schachmeister und Schachgroßmeister, die in Israel inzwischen eine eigene Liga mit zwölf Mannschaften aufgebaut haben und das Land zu einer der führenden Schachnationen machen wollen.
Doch während sie in der Sowjetunion als Helden galten und vom Staat bezahlt wurden, sind sie in Israel nur Amateure, die sich nebenher mit Schachunterricht ihren Lebensunterhalt verdienen oder als Nachtwächter jobben. Fast fünfzig Prozent der Olim, wie die Einwanderer heißen, haben einen Hochschulabschluß. Aber nur ein Drittel dieser Akademiker arbeitet in ihrem angestammten Berufsfeld.
Natalia ist gelernte Ingenieurin. Trotz zehn Jahren Berufserfahrung wurde ihr Abschluß in Israel nicht anerkannt. Die Einwanderungsbehörden rieten ihr zu einem Kochkurs. Doch sie besuchte einen Lehrgang für Unternehmer und handelt jetzt mit Kosmetika und Cremes. „Ich bin die einzige aus dem Kurs, die ein eigenes Geschäft hat“, sagt Natalia stolz. Gerade unter Frauen ist die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie bei den Männern.
Die 35jährige Luba war Verkäuferin in Kiew. Heute hält sie sich mit Putzjobs über Wasser. „Damit habe ich immer noch ein besseres Leben als in Kiew“, sagt sie. Sie wohnt in einem schmucken Apartment in Ost-Talpiot in Jerusalem, einem neugebauten Immigrantenviertel. Die Arbeitslosigkeit unter den Einwanderern ist von vierzig Prozent im Jahr 1991 auf derzeit rund zwölf Prozent gesunken. Viele Immigranten erhalten allerdings ein geringeres Salär als ihre israelischen Kollegen. Und Einwanderer über 45 Jahre haben es besonders schwer, eine Anstellung zu finden.
Fünf große Einwanderungswellen erlebte Palästina vor der Gründung Israels. Danach kamen die Überlebenden des Holocaust, in den fünfziger Jahren die Juden aus den arabischen Ländern. Während deren Einwanderung vor allem als Bürde beim Aufbau des Landes begriffen wurde, bescherte der Zuzug der hochqualifizierten Männer und Frauen aus der GUS der israelischen Wirtschaft ein Wachstum von mehr als sechs Prozent jährlich. Dabei gingen nur knapp dreißig Prozent der Juden, die die GUS verließen, nach Israel. In der GUS leben noch heute 1,2 Millionen Juden, die die Jewish Agency als potentielle Einwanderer betrachtet. Knapp 600.000 israelische Staatsbürger halten sich nach Schätzungen der Jewish Agency permanent im Ausland auf und gelten als „Noch- Nicht-Zurückgekehrte“.
„Wir stehen vor der schwierigen Aufgabe, die Juden in der westlichen Welt zur Alija zu überreden“, sagt Abraham Burg, Chef der Jewish Agency. Mindestens 65.000 Juden pro Jahr will er im nächsten Jahrzehnt nach Israel bringen. Aus den USA, die mit sechs Millionen Juden mehr Einwohner als Israel haben, kommen derzeit nur 2.000 Einwanderer pro Jahr. Die hohen Lebenshaltungskosten, die unsichere Zukunft mit den Palästinensern und die bescheidene Aussicht auf einen lukrativen Job machen Israel nicht besonders attraktiv für westliche Einwanderer.
Und die noch immer nicht ausgestandene Debatte um das Konvertierungsgesetz und die Frage „Wer ist Jude?“ belastet speziell das Verhältnis zwischen US-Juden und Israel. „Je mehr Israel als ein Staat nach der Art Chomeinis betrachtet wird, desto weniger attraktiv wird es für Einwanderer sein“, sagt der Chef der Reform- Juden, Rabbi Uri Regev.
Rabbi Elijahu Avichajil aus Jerusalem hat sich eine eigene Aufgabe gesetzt. Seit Jahren schon tourt er rund um die Welt, auf der Suche nach den „zehn verlorenen Stämmen Israels“. Gefunden hat er sie noch nicht. Doch seine Suche allein beweist, wie wichtig die Immigration für den jüdischen Staat ist und bleiben wird.
„Wer nicht immigriert, ist kein Zionist, sondern nur ein Freund Israels“, sagte Staatsgründer David Ben Gurion. Es gibt immer noch Leute, die sich diese Worte zu Herzen nehmen. Ende März machte die US-Amerikanerin und aktive Zionistin Belle Goldstein ihre Alija – im Alter von 102 Jahren.
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