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Göttliche 68er-Komödie

Das spezifische Gewicht der Worte, die Wirklichkeit der Rede und was der „Fall Sofri“ lehrt: Richter überschätzen die Intellektuellen, die sich selbst gern unterschätzen – auch um nicht schuldig sein zu müssen  ■ Von Thomas Schmid

Immer mal wieder flackert sie auf: die Klage über den Bedeutungsverlust, den die Schicht der Deuter und Wegweiser erlitten hat. Und weil der „Staat“ die Intellektuellen nicht mehr zu fürchten, also nicht mehr ernst zu nehmen scheint, nehmen sich etliche Intellektuelle selbst nicht mehr ernst. Hinter vielen der ironischen Abschiedsadressen an den organischen, den avantgardistischen Intellektuellen lugen Wut und Trauer über verpaßte Chancen hervor.

Dabei wäre im Land so manchen deutschen Traums, in Italien, ein Fall zu studieren, der zeigt, wie bitter ernst und wörtlich Justiz und Staat Intellektuelle noch immer nehmen können. Hinter dem „Fall Sofri“ verbirgt sich das Drama einer Revolte, die selbstbewußt und mutwillig die Grenze zwischen Rede und Tat, Imagination und Wirklichkeit, Hohem und Niederem fließend gemacht hat und nun auf die halbe Wahrheit festgenagelt werden soll.

Der Hergang ist schnell erzählt. Im Dezember 1969 am Ende des „heißen Herbstes“ mit seinen Revolten der Studenten und der Arbeiter – explodiert in einer Mailänder Bank eine Bombe, 17 Menschen werden getötet, viele verletzt. Polizei wie der größte Teil der Öffentlichkeit schreiben dieses bisher grausamste Attentat der italienischen Nachkriegsgeschichte augenblicklich der Linken zu, zwei Anarchisten werden verhaftet. Einer von ihnen, der Eisenbahner Giuseppe Pinelli, stürzt wenige Tage später aus dem Vernehmungszimmer im vierten Stock des Polizeipräsidiums. Selbstmord eines Schuldigen, sagt die Polizei; Mord an einem Unschuldigen sagt die Linke. Und sie eröffnet eine große publizistische Kampagne, um ihrer Deutung Geltung zu verschaffen: Der Anschlag sei Teil einer staatlichen, von rechten Verschwörergruppen mitinszenierten „Strategie der Spannung“. Außerdem könne einer, der Genosse sei, nie zu solch barbarischen Mitteln des wahllosen Terrorismus greifen.

Zielscheibe der Kampagne war nicht zuletzt der Polizeikommissar Luigi Calabresi, der die Vernehmung Pinellis geleitet hatte. Die linksradikale Organisation „Lotta Continua“ (LC) wurde in ihrer Zeitung nicht müde, Calabresi als den für den Mord an Pinelli Verantwortlichen hinzustellen: Das staatliche Böse hatte Namen und Gesicht bekommen. Drei Jahre später wird Calabresi beim Verlassen seines Hauses erschossen, die Täter entkommen, die Polizei tappt jahrelang im dunkeln. „Lotta Continua“ nennt den Mord eine Tat, „in der die Ausgebeuteten ihr Verlangen nach Gerechtigkeit wiederfinden“.

Viele Jahre danach, im Juli 1988, meldet sich ein ehemaliger Militanter von „Lotta Continua“ bei den Carabinieri und gibt in langen Verhören zu Protokoll: Er, Leonardo Marino, habe zusammen mit einem anderen Mitglied der Organisation Calabresi erschossen – direkte Auftraggeber des Mordes seien zwei Spitzenfunktionäre von LC gewesen, Adriano Sofri und Giorgio Pietrostefani. Nach einem langen Prozeß voller Widersprüche und Merkwürdigkeiten (u.a. „verschwanden“ Beweisstücke) wurden die Angeklagten zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt – ausschließlich aufgrund der Aussage Marinos. Sofri und die beiden anderen Verurteilten traten die Strafe an, ein Gnadengesuch lehnten sie ab – denn dies sei ja ein Eingeständnis von Schuld.

Der Historiker Carlo Ginzburg hat das umfangreiche Urteil in einem kleinen Buch analysiert („Der Richter und der Historiker“, Wagenbach 1991). Aus der Lektüre wird überdeutlich: Eine offensichtlich voreingenommene Justiz hat jede Chance und jede noch so windige Konstruktion genutzt, um die Angeklagten als Täter zu fixieren. Sie hat mehr als alle Möglichkeiten genutzt, die das Gesetz bietet, um eine ganz spezielle Lesart der Revolte mit der höchsten Autorität durchzusetzen, die ein demokratisches Gemeinwesen kennt. Sie hat die winzige Chance, die sich ihnen mit Marinos rätselhaftem Schritt bot, genutzt, um das Vieldeutige in ihrem Sinne eindeutig zu machen.

Ginge es nicht um viele Jahre Gefängnis – die Sache hätte etwas Komisches. Denn diese Richter sind ausschließlich in der Lage, immer nur das eine zu verstehen: Die Gewalt ist für sie der Cantus firmus der Revolte, die gegen Ende der sechziger Jahre ihren Höhepunkt hatte. Sie entpuppen sich dabei als wahre hermeneutische Idioten: Blind tappen sie im Reich der Zeichen herum. Ohne jedes Verständnis für das eine, das spezifische Gewicht von Worten, nehmen sie alles wortwörtlich: Wer Gewalt preist, begeht sie.

Nicht erst seit an jeder Straßenecke Werbung lockt, gehören Rhetorik und die Kunst der uneigentlichen Rede zur Grundausstattung aller Gemeinschaften. Gesellschaften schaffen sich ihre großen und kleinen Erzählungen, die das stiften, was man Identität und historisches Bewußtsein nennt. Nie wird da erzählt, „wie es denn eigentlich gewesen sei“; alles ist vielmehr Fiktion – wirklichkeits- und gesellschaftsbildende Fiktion, die mit den Tatsachen ebenso freihändig umgeht wie mit den Wünschen und Phantasien.

Es stimmt: Seit 1968 ist viel von Gewalt geredet worden. Und in einer im Grunde genommen dezisionistischen Anknüpfung an eine vergangene revolutionäre Tradition und Rhetorik ist ihr ein befreiendes, das schlechte Alte aufsprengendes Vermögen zugeschrieben worden. Um eines der schiefen, aber um so wirksameren Bilder zu zitieren, die die Gedankenfigur plausibel und erhebend machten: die Gewalt als Geburtshelferin der neuen Gesellschaft.

Heute ist nicht mehr leicht zu verstehen, was alles die Gewalt- Rhetorik befördert hat. Sie hat wirklicher Gewalt den Weg öffnen geholfen, sie hat einen größenwahnsinnigen, aber weithin symbolischen linken Machismo als positiv erscheinen lassen, und sie hat – das war vielleicht das Wichtigste – dazu gedient, den leidenschaftlichen Wunsch nach dem großen Fest der Veränderung auszudrücken. Das Neue sollte und mußte, durchaus in der endzeitlichen Tradition christlichen Denkens, das ganz andere sein – und deshalb durfte es sich (aller Theorie zum Trotz, die die neue Gesellschaft im „Schoße“ der alten heranwachsen sah) nicht harmonisch, nicht evolutionär, nicht unauffällig und peu à peu herausbilden.

Liest und hört man in die Zeugnisse von „68“ hinein, erscheint heute ihre Symbolwelt kaum weniger fremd als die von Dantes „Divina Commedia“. Adriano Sofris Richter haben nichts von der Vielfarbigkeit dieser Welt verstanden. Sie haben eine direkte, eine unausweichliche Linie von Rede zu Tat gezogen und alles nur wörtlich genommen: „68“ sei der Wille zur Gewalt gewesen, dem die Tat auf dem Fuße folgte.

Das ist eine verrückte Interpretation. Aber auch eine, die der Welt der Rede höchstens Respekt zollt. Man kann die Geschichte des intellektuellen Engagements für den Sozialismus – von Romain Rolland bis Stephan Hermlin – als die Geschichte eines Irrtums, einer statusaufwertenden Selbsttäuschung und einer von Schuld nicht freien Vernarrtheit in die angeblich starken Truppen der Geschichte deuten. Doch zugleich bezeugt dies Kapitel, und zwar gerade in seinen dunklen Seiten, auch etwas anderes: die wirklichkeitsbildende Kraft der sich selbst anfeuernden Rede. Als der Sozialismus sein wahres Gesicht – um das Mindeste zu sagen: das der Unfreiheit – schon widerrufen gezeigt hatte, gelang es vor allem dank einer Armee von Intellektuellen noch mehr als ein halbes Jahrhundert lang, mit dem vagen Bild dieser angeblich besseren Gesellschaft zu werben und sich damit als Treuhänder aller besseren Traditionen der Menschheit in Szene zu setzen. Wider Willen haben Sofris Richter dieser geistigen Kraft ihre Reverenz erwiesen.

(Heute ist oft zu hören, dieses Vermögen der Intellektuellen sei mit dem Untergang des Sozialismus und/oder dem Ende der „Sinn-Gesellschaft“ erloschen. Nichts spricht indes dagegen, daß Menschen – diese zeichenschaffenden Tiere – auch in Zukunft fähig sein werden, mit der Kraft der Imagination Wirklichkeit zu modellieren.

Der richterlichen Überschätzung der einstigen revolutionären Rede entspricht freilich ihre Unterschätzung durch die, die sie im Munde führten. Für viele von ihnen haben die Worte im nachhinein überhaupt kein spezifisches Gewicht mehr. Während die Richter den kürzesten denkbaren Weg zwischen Wort und Tat unterstellten, wollen manche Revolutionäre von einst sowie manche, die ihnen intellektuell Hilfestellung gaben, keine Brücke zwischen Wort und Tat sehen. Sie zitieren in Deutschland dann gern jenen unseligen Politiker, der Heinrich Böll in direkter Verantwortung für die Taten der RAF sah.

Sie machen es sich damit entschieden zu einfach. Sicher, die Rede von Gewalt kann Gewalt bannen. Sie kann ihr aber auch den Weg bereiten. 1968 fand beides statt. Die Deuter und Wegweiser haben auf beiden Hochzeiten getanzt. Diese Geschichte von Schuld und Verdienst wird in der Schwebe bleiben. Daraus müssen nicht Starre und Stillstand folgen. Adriano Sofri beweist es mit einem Buch, dessen deutsche Übersetzung gerade erschienen ist („Der Knoten und der Nagel. Ein Buch zur linken Hand“, Eichborn Verlag, Die Andere Bibiliothek): Da steht einer, der der alleinseligmachenden Politik ade gesagt hat, im Dauergespräch mit den linken Vergangenheiten – doch seine federleichte Rede ist nicht „Bewältigung“, sondern belehrter Aufbruch.

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