: Masse und Klasse
Unis im Umbruch (Folge 3): Die Humboldt-Universität ist auf dem Weg, ein Opfer ihres eigenen Erfolgs zu werden ■ Von Ralph Bollmann
Die beiden Studenten aus Westdeutschland kamen sich sehr mutig vor. Als sie 1992 zu den Humboldt- Historikern kamen, hatte die Studienberaterin nicht einmal ein eigenes Zimmer. Waltraud Wiese bat sie deshalb in das Büro eines abwesenden Professors. Doch diese Provisorien, versprach sie, hätten bald ein Ende. Sie zählte die Namen prominenter West-Professoren auf, verwies aber auch auf einige Ost-Dozenten, denn „bei uns war ja auch nicht alles schlecht“. Im übrigen hätten sich bereits mehrere Studenten aus den alten Bundesländern eingeschrieben, „Sie wären also keine Exoten mehr!“
Heute käme niemand mehr auf die Idee, Studenten aus dem Westen für Exoten zu halten. Waltraud Wiese hat jetzt ein eigenes Zimmer, und manchmal wäre es ihr wohl lieber, es wollten sich ein paar Studenten weniger einschreiben. In nur zwei Jahren, von 1993 bis 1995, hat sich die Zahl der angehenden Historiker von 800 auf 1.600 verdoppelt. Allein der Numerus clausus (NC) verhindert seither einen weiteren Anstieg. Inzwischen ist der Zugang zu 83 von 173 HU-Studiengängen beschränkt, darunter sind nahezu alle großen Fächer. „Besonders in den sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächern sind bereits jetzt Erscheinungen einer Massenuniversität spürbar“, formulierte die Entwicklungsplanungskommission (EPK) unter dem Vorsitz der Informatikerin Beate Meffert.
Die Humboldt-Universität, so scheint es, wird zum Opfer des eigenen Erfolges. Von der „Elite- Universität“, die der damalige Wissenschaftssenator Manfred Erhardt (CDU) seit 1991 Unter den Linden aufbauen wollte, spricht heute zwar niemand mehr. Doch die Tradition einer Hochschule, die bis 1933 als „Weltzentrum der Wissenschaft“ galt, lockte viele prominente Professoren. In der Anfangszeit, als die Finanzen weniger knapp waren als heute, tat eine üppige Ausstattung der Lehrstühle mit Assisten, Hilfskräften, Räumen und Bücheretats ein übriges.
Inzwischen ist zumindest ein Teil der Euphorie verflogen. Seit dem Beginn der Spardebatte 1993 mußte die HU notgedrungen vom Aufbau zum Abbau übergehen. Die großen Lücken in den Bibliotheksbeständen sind noch immer nicht aufgefüllt, an Räumen fehlt es ebenfalls. Auch wenn Berufungszusagen nicht direkt gebrochen werden, so vermißt nach dem Wegfall von Stellen doch manch ein Forscher das wissenschaftliche Umfeld, das er sich von dem Wechsel nach Berlin erhoffte. Freilich hat es auch die Eitelkeit manchen Professors gekränkt, vom Platzhirsch an einer westdeutschen Provinzhochschule zu einer Koryphäe unter vielen herabgesunken zu sein.
Der Unmut machte sich einmal mehr Luft, als der Akademische Senat der Hochschule Ende März über die Kürzung von 80 Professorenstellen debattierte. Unter den Augen der Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt, die von ihren Ölgemälden über das Geschehen im Sitzungssaal wachten, debattierten die Senatoren die Frage, ob sie in der Präambel des Schrumpfplans „Visionen“ für die Zukunft formulieren sollten. Der Historiker Wolfgang Hardtwig riet entschieden davon ab. „Die Formulierung einer Vision“, so warnte er, „würde in der Wahrnehmung der Politiker heißen: Prima gelaufen!“ Der Pädagoge Heinz-Elmar Tenorth beklagte ein „politisches Programm der Studienplatzvernichtung“. Um die „Exzellenz“ der Hochschule sorgte sich der Philosoph Volker Gerhardt, „sonst werden wir die Massenuniversität, während die FU die Eliten anzieht“.
Doch während sich die frühere Präsidentin Marlis Dürkop von der düsteren Stimmung solcher Sitzungen mitreißen ließ, läßt sich ihr Nachfolger Hans Meyer davon nicht beirren. Heben andere Uni- Chefs auf die Frage nach dem Profil ihrer Hochschule zu umständlichen Ausführungen an, antwortet Meyer mit einem einzigen Satz: „Wir sind vorne und oben.“ Es handele sich um „eine Universität mit großer Tradition, die den Stadtkern bestimmt wie keine andere Universität in Europa“. Aus seinem holzgetäfelten Amtszimmer fällt der Blick unterdessen auf die Denkmäler des Physikers Helmholtz, des Historikers Mommsen, des Naturforschers Alexander und des Universitätsgründers Wilhelm von Humboldt.
Auch im Umgang mit der Politik stellt Meyer ein solides Selbstbewußtsein unter Beweis, nicht ohne bisweilen schnelle Kehrtwendungen zu vollziehen. Im Reigen der Berliner Uni-Chefs ist der 65jährige Meyer zwar der älteste, aber zugleich so etwas wie ein Rädelsführer. Gleich nach seinem Amtsantritt 1996 drohte er den Politikern, bei weiteren Kürzungen werde seine Hochschule keine Studierenden mehr aufnehmen. Als Wissenschaftssenator Peter Radunski (CDU) wenig später die Unis mit schmalem Etat in die Unabhängigkeit entlassen wollte, war Meyer der erste, der den Vertrag unterschrieb. Den neuen Freiraum nutzte er sogleich, um die Staatsvertreter aus den universitären Gremien gänzlich zu verbannen. Gleichwohl war er im Studentenstreik des letzten Winters wiederum der erste Uni-Chef, der Nachbesserungen bei den Finanzen verlangte.
Zu diesem Zeitpunkt hatte er die Schlüsselgewalt über das Hauptgebäude in die Hände der Studentenvertreter gelegt, Streikposten bewachten die Eingänge. Die HU war in Berlin das Zentrum des Protests. Anders als er es vielleicht gemeint hatte, bestätigte sich Meyers These, daß die HU „den Stadtkern bestimmt wie keine andere Hochschule in Europa“. Mit dem Scheunenviertel im Rücken und vom künftigen Regierungsviertel umzingelt, haben sich Ost und West vermischt wie vielleicht nirgendwo sonst. Daß die Herkunft in der Professorenschaft, die zu einem Drittel aus dem Osten und zu zwei Dritteln aus dem Westen stammt, „keine wesentliche Rolle“ spiele, mag vielleicht Wunschdenken eines Präsidenten sein, der nicht etwa in Dahlem, sondern direkt hinter der Uni wohnt. Unter den Studenten aber sind die Grenzen der Milieus bereits verschwommen. Als Exot jedenfalls fühlt sich niemand mehr.
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