: Irrgarten im Studiosystem
Hannes Böhringer bringt in seinem Buch „Auf dem Rücken Amerikas. Eine Mythologie der neuen Welt im Western und Gangsterfilm“ viel Verständnis für die Handlungen und Sichtweisen der Helden auf ■ Von Sebastian Weber
Das große Versprechen Amerikas, auf der Dollarnote der Vereinigten Staaten, über der Pyramide mit dem Auge, steht es geschrieben: Novus Ordo Saecolorum, eine neue Ordnung der Zeitalter. Die Nation bringt sich selbst zur Welt, und am liebsten würde sie niemals mit ihrer Geburt aufhören. Gewalt, die alte „Geburtshelferin der Geschichte“ (Marx), steht ihr bei. Amerika verschiebt seine Grenzen, westwärts. Denn hier ist ihr Mythos zu Hause. Und die große Fabrik, die ihn verarbeitet: Hollywood.
Der Western, „der amerikanische Film par excellence“ (André Bazin), versteht das Versprechen des Neuanfangs auf seine Weise. Kaum ist die Landnahme im Westen abgeschlossen (1890: Ende der open frontier), fängt er an, sie immer wieder nachzuspielen: verklärt zum Kampf zwischen denen, die das Land zu Recht in ihren Besitz nehmen, und denen, die dort nichts zu suchen haben. Recht gibt der Western der Gemeinschaft, den Einwanderern, die in den Westen aufbrechen und dort bürgerliche Verhältnisse schaffen. Das gelingt in dieser Welt voller Bedrohungen nur dank der Schützenhilfe einer etwas zwiespältigen Figur ohne festen Wohnsitz: dem Cowboy, der zum Westernhelden wird.
Er und der Gangster, „Männer mit Pistolen“ (Robert Warshow), sind die Serienhelden der amerikanischen Mythologie. Der Philosoph Hannes Böhringer hat sich die beiden unter diesem Gesichtspunkt in Filmen aus Hollywood angeschaut, in Gangsterfilmen der vierziger und Western der fünfziger Jahre, die er in seinem jüngsten Buch „Auf dem Rücken Amerikas“ nacherzählt. Böhringers „Rückübersetzung ihrer Bilder in Sprache“ verwendet nicht das Vokabular der Filmtheorie. Statt die Filme auf den Seziertisch zu legen, nimmt er sie so, wie sie bei ihm angekommen sind: als Mythen Amerikas.
Am Anfang des Buches heißt es, der Mythos sei ein Irrgarten. Das Bild ist gut gewählt, es ersetzt eine umständliche Definition. Um im Irrgarten des amerikanischen Mythos voranzukommen, bietet sich als Führer die Figur des Westernhelden an. „Der Held kommt vorbei und hilft. Der Stärkere bricht das Recht des Stärkeren und ermöglicht so den Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft.“ So lautet die Telegrammversion des Mythos; die Western nehmen sich etwas mehr Zeit für ihre Geschichten; doch als Mythen erzählen sie eigentlich immer wieder dieselbe. Was sie nicht aufhört zu beschäftigen ist das Lebensproblem ihres Helden. Er ist stark genug, auch ohne bürgerliche Gesellschaft leben zu können, manchmal hat er mit ihr (oder sie mit ihm) gebrochen. Er hat bestimmt nicht auf sie gewartet, doch als sie sich nun in den Westen vorwagt, um einen Neuanfang zu machen, und dort unvermeidlich in Gefahr gerät, kann er nicht anders und steht ihr als Geburtshelfer bei. Er tut dies, obwohl er weiß oder wenigstens ahnt, daß in ihrer Ordnung, hat sie sich einmal gefestigt, für jemanden wie ihn kein Platz mehr ist. Die Mythen des Western erzählen davon, und dabei verzweigen sie sich. Die einen laufen darauf hinaus, daß der Held am Ende doch noch bürgerlich wird, die anderen darauf, daß er auf sein Pferd steigt und das Weite sucht, westwärts.
Nacherzählt werden die Geschichten so, daß die menschlich- übermenschlichen Verbindungen zwischen ihnen hervortreten. Gemeint sind damit mythologische Verbindungen, obwohl diese, auch das gehört ja zum amerikanischen Neuanfang, nicht mehr über Genealogie, über Abstammungslinien, verlaufen. Einer Geschichte folgend, kann der Autor doch vorläufig einer anderen nachgehen, auf sie zurückkommen, auf Verzweigungen und Knotenpunkte aufmerksam machen. Er läßt sich auf den Mythos ein, ohne sich davon ablenken zu lassen, daß es sich bei den Filmen um Produkte handelt, daß die Heldenrolle mit Schauspielern besetzt ist und der Irrgarten in einem Studio steht.
Für die Handlungen der Helden und die Sichtweise der Geschichten bringt Böhringer viel Verständnis auf. Man spürt, seine nüchterne Art der Beschreibung ist da überhaupt kein Hindernis, daß er von Western spricht, die ihm gefallen, daß er die Selbstbeherrschung der Helden, ihre „Contenance“, wie es öfters heißt, als Tugend begreift. Und zwar gerade weil sie von Gewalt durchdrungen und umgeben, manchmal auch besessen oder traumatisiert sind. Aus der Rolle fällt der Held, sobald er sich, haltlos geworden, an die Gewalt verliert, durchdreht und vorzeitig die Waffen sprechen läßt. Western, die es so weit kommen lassen, spielen mit ihrer eigenen Moral, einer Moral, die der Gewalt des Helden ihre Berechtigung bescheinigt, indem sie diese als langersehnte Antwort auf vorangegangene Übeltaten der Gegenseite darstellt. Keiner der Western aus Böhringers Auswahl hat noch diese selbstgerechte Unbefangenheit. Im Unterschied zur kunstlosen Professionalität der Durchschnittsware, handelt es sich ja – von Hawks' „Red River“ über Nicholas Rays „Johnny Guitar“ zu John Fords „The Searchers“ – um Spitzenleistungen des Genres. Um, wie Böhringer einmal sagt, „Edelwestern“. An ihren angeschlagenen Helden zeigt sich, daß sie ihre Moral aufs Spiel setzen müssen, um sie letztlich zu bestätigen; nur auf diese Weise konnten sie dem Mythos die Treue halten. Das war in den fünfziger Jahren, der Zeit, in der diese Filme produziert wurden. Längst sind sie, gefördert von Filmkritik und -theorie, zu Kunstwerken aufgestiegen. Böhringer dagegen versucht, sie noch einmal so zu sehen, wie sie vor diesem Aufstieg waren. Das macht sein Buch außergewöhnlich. In der streng symmetrischen Komposition des Buchs steht dem Western mit Held der Film noir mit Gangster gegenüber. Gelegentlich spiegeln sie sich auch ineinander; wird dieser zu jenem oder umgekehrt.
Der Film noir, Hollywoods Schwarze Serie, erschafft „eine neue kunstvolle Welt, die über ein simples soziologisches Spiegelbild hinausging, eine alptraumhafte Welt von amerikanischen Manierismen“ (Paul Schrader). Böhringer hält sich in dieser Welt wieder an eine Kunstfigur, den Gangster, wobei er den Westernheld, die andere Kunstfigur, nicht aus den Augen läßt. Beide sind Einzelgänger, in denen sich die Gewalt ihrer Welt konzentriert; doch die Selbstbeherrschung des einen wird beim andern zum Bluff. Der Gangster lebt nicht im Freien, „sondern im Gefängnis der verstädterten Welt“. Was ihn im Film noir treibt, ist der Ausbruch aus der Stadt, nicht etwa ihre Beherrschung; die gehört zum Geschäftsbereich des Organisierten Verbrechens und wird in anderen Filmen behandelt.
Aus der bürgerlichen Gesellschaft, im Western erst im Entstehen begriffen, ist ein gigantischer Betrieb geworden. Er läuft auf Hochtouren, doch die in sein Getriebe eingespannten Charaktermasken befinden sich im Zustand innerer Aushöhlung. Im Gangster kann der Film noir die Triebkräfte körperlich darstellen, die die Welt des urbanen kapitalistischen Amerikas beherrschen, Filme eines sozialkritischen Realismus beschränken sich dagegen eher auf die Darstellung bestimmter Milieus, weshalb in ihnen auch Gangster und Gewalt völlig anders aussehen.
Was die Atmosphäre des Film noir bestimmt, ist die Anwesenheit eines Verbrechens, weniger die Tat oder ihre Aufklärung. Auch in der direkten Konfrontation zwischen Gangster und Gegenspieler zeigen diese Filme ihre Personen als Durchschnittsmenschen. Wenn sie überhaupt noch als gut oder böse erscheinen, dann nicht mehr auf Grund von so etwas wie innerer Notwendigkeit, sondern eher aus einer kontingenten Situation heraus. Wird jemand auf dem Weg durchs Leben aus der Bahn geworfen, dann stehen zur Erklärung dieses Falls nur die abstraktesten Größen zur Verfügung, der Zufall und die Gier. Mit ihnen kann man alles und nichts erklären, aber nichts und niemanden wirklich anklagen oder entschuldigen. Wie eine Reihe von Fallstudien lesen sich Böhringers Nacherzählungen dieser Filme. Diese Welt beschränkt sich in ihrer Mythologie auf eine Figur, den Gangster. Man kann ihn überall und in jedermann (auch als Frau) treffen; entlang der Filme folgt ihr der Nacherzähler durch die Vereinigten Staaten, von Chicago (John Hustons „The Asphalt Jungle“) über eine Tankstelle in Kalifornien (Tay Garnetts „The Postman Always Rings Twice“) nach Florida (Hustons „Key Largo“).
Trotzdem steht jede Geschichte für sich, denn alle laufen auf das gleiche hinaus: zu einem Anderswo außerhalb des Getriebes, wo man neu anfangen oder endlich aufhören kann. Eine Schimäre, wie sich immer wieder herausstellt, denn schließlich werden auch diejenigen zur Strecke gebracht, die schon glaubten, angekommen zu sein. Hollywoods Grundsatz, Verbrechen dürfe sich nicht auszahlen (Crime doesn't pay), gilt weiter. Das Neue ist nur: den Film noir erfüllt das Scheitern des Gangsters nicht mehr mit moralischer Genugtuung.
Böhringers Auswahl beschränkt sich auf den Film noir in seiner Hochzeit, die vierziger Jahre. Sicher ist er die erste und vielleicht immer noch bedeutendste Abweichung Hollywoods vom Mythos Amerika. Zu dessen Entmachtung führte das nicht. Im Gegenteil: In den Western der fünfziger Jahre behauptet sich der Mythos in Gestalt erfolgreich bestandener Gewissensprüfungen erneut, während die Unbotmäßigkeiten des Film noir mit McCarthys Gesinnungsüberprüfungen zu tun bekamen. Erst als in den sechziger Jahren die Spätwestern aufkommen, kündigt sich auch im angestammten Bereich des amerikanischen Mythos eine Entzauberung an. „Immer mehr schwarze Elemente sickern in den Western ein.“ Auf diese Entzauberung und auf die umgekehrte Bewegung – die Verzauberung der entzauberten Welt des Gangsterfilms – kommt das letzte Kapitel des Buchs kurz zu sprechen.
Das Unbehagen Böhringers am Verschwinden der Grenzen zwischen den Genrewelten und damit an der Vermischung von Mythisierung und Entmythologisierung ist kaum zu überhören. Es breitet sich eine Atmosphäre zunehmender Entwirklichung aus. In ihr muß die Gewalt ins Unerträgliche gesteigert werden. Zu Peckingpahs „The Wild Bunch“ – Prototyp des Spätwestern mit kaputten Helden – fällt ihm noch „Gelächter“ als Überschrift ein, aber bei der widerlichen Folterszene in „Reservoir Dogs“ – Tarantinos Fortsetzung des schwarzen Gangsterfilms – verschlägt es dem Nacherzähler die Sprache: „Der Regisseur foltert den Zuschauer.“ Daß niemand so gewieft ist zu bemerken: Es ist alles nur ein Spiel – „Halbstarke (!) spielen Imitationen von Imitationen nach, Fernsehserien, die alte Gangsterfilme in die Länge ziehen“ –, macht die Sache nicht besser, Hollywood ist sein eigener Mythos geworden, wirklich und unwirklich zugleich. Der Weg durch den Irrgarten des Mythos Amerika führt also schließlich doch ins Studiosystem. Nicht weiter? Der letzte Film „Brute Force“ ist noch einmal tiefstes Schwarz aus dem Jahr 1947; er handelt vom Ausbruchsversuch aus einem Gefängnis, in dem Verhältnisse herrschen, als sei es eine Außenstelle des in Europa gerade besiegten Faschismus auf amerikanischem Boden. Der Ausbruch scheitert; der Regisseur, Jules Dassin, mußte Hollywood als Linker verlassen, aber nie hat er bessere Filme gedreht als dort.
„Auf dem Rücken Amerikas. Eine Mythologie der neuen Welt im Western und Gangsterfilm“. Merve Verlag, Berlin 1998, 153 Seiten, 18 Mark
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