: Die Entscheidung der EU-Staats- und Regierungschefs über die Präsidentschaft der Europäischen Zentralbank gestaltete sich als unwürdiges Gezerre um die Amtszeit des Wunschkandidaten. 14 EU-Länder wollten den Niederländer Wim Duisenberg, nur Frankreich beharrte auf dem eigenen Kandidaten. Ergebnis: Duisenberg hat sich überreden lassen, seinen Job im Jahre 2002 „aus Altersgründen“ vorzeitig wieder aufzugeben. Aus Brüssel Alois Berger
Einigung im Beichtstuhl
Für Wim Duisenberg begann das Brüsseler Jahrhundertereignis mit einem ausgesprochen schlechten Nachmittag. Dabei sah es am Anfang gar nicht schlecht aus. Vor dem Sitzungsraum der 15 EU-Regierungschefs prügelten sich die Fotografen um die besten Plätze, und dpa meldete bereits um 13.59 Uhr, eine Einigung über den künftigen Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB) stünde unmittelbar bevor: „Nach der sich abzeichnenden Lösung wird der 62jährige Duisenberg vertragsgemäß für eine Amtszeit von acht Jahren gewählt. Er soll aber freiwillig nach vier Jahren von seinem Posten zurücktreten.“
Doch als die EU-Chefs um 16.00 Uhr immer noch beim Mittagessen saßen, wurde Duisenberg nervös: Wenn die länger als vorgesehen an ihren Desserts kauen, bedeutet das Komplikationen. Wochenlang hatten die Sherpas aus den Hauptstädten den Kompromiß vorbereitet. 14 EU-Länder wollten Duisenberg, nur Frankreich stellte sich quer; der EZB- Chef müsse ein Franzose sein. Weil die Entscheidung einstimmig fallen muß, bot sich die Teilung der Amtszeit an. Aber der Maastrichter Vertrag verbietet es, den EZB-Präsidenten vorzeitig abzusetzen, das würde seine Unabhängigkeit einschränken. Duisenberg hatte sich deshalb überreden lassen, einen freiwilligen Rücktritt in Betracht zu ziehen und das auch öffentlich anzukündigen. Aber beim Wein aus dem hauseigenen Keller des Ministerrates war dem französischen Präsidenten Chirac plötzlich in den Kopf geschossen, daß ihm das zu unverbindlich sei. Er wünsche eine schriftliche Zusage mit genauem Datum.
Genaueres gab's nicht, weil die 4.000 Pressevertreter in den tristen Arbeitsräumen auf die dürftigen Mitteilungen der Pressesprecher angewiesen sind, die ihre Neuigkeiten auch nur vom Hörensagen wissen. Zum Speiseraum der Regierungschefs haben nur wenige ausgewählte Beamte Zutritt, selbst die Finanzminister müssen draußen bleiben. Wären sie dabei, so die Befürchtung, ginge gar nichts mehr, weil dann nur noch Bedenken gewälzt würden. Gegen 17.00 Uhr stürzen Journalisten in Richtung Luxemburger Delegationsbüro. Ein kleiner, dicker Mann, der laut Badge Zugang zum äußeren Kreis der Macht hat, erzählt, er habe Duisenberg gesehen. „Wie ein Tiger im Käfig“ laufe der hinter den schweren Holztüren auf und ab, während im Nebenraum an seiner Erklärung gefeilt werde.
Alle paar Minuten gehe Duisenberg hinüber, um zu sehen, ob er noch sagen könne, was sie ihm da vorsetzen wollten. Nach aktuellem Stand werde der kraftstrotzende Friese aus persönlichen Erwägungen, vielleicht sogar aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig ausscheiden.
Von holländischen Journalisten ist zu erfahren, daß der niederländischen Regierung unwohl ist. Schließlich sind am Mittwoch Parlamentswahlen, und da könne es schlecht ankommen, daß der beste Mann, den Holland zur Verfügung stellt, zu solchen Selbstdemütigungen gezwungen werde. Duisenberg sei nicht irgendwer. Als Finanzminister und langjähriger Notenbankchef habe er sich den Namen „Vater des starken Gulden“ verdient. „Die latente Wut der Niederländer auf die arroganten Franzosen wird jetzt noch stärker.“
Um 16.30 wird oben im achten Stock das Mittagessen unterbrochen. Die Regierungschefs ziehen sich zu Beratungen mit ihren Finanzministern und Notenbankchefs zurück. Sandwiches sollen dort gereicht werden, heißt es. Belgische Journalisten erzählen, daß ihr Premier sauer auf den Briten Tony Blair sei, der als Ratspräsident die Verhandlungen führt. Der habe in den Wochen vor dem Gipfel die Kompromißmöglichkeiten nicht genügend ausgelotet. Die Journalisten verdächtigen Blair, er habe das absichtlich nicht gemacht, weil er den Euro nicht wolle.
Um 16.45 zitiert Blair den holländischen Premier Wim Kok, Helmut Kohl und Jacques Chirac zum Krisengespräch in ein Nebenzimmer. Danach geht es zurück zum Mittagessen mit allen. Zwischendurch geht Blair mit Kohl, Kok und Chirac einzeln in Klausur. Bei diesen sogenannten Beichtstuhlgesprächen werden die Parteien ins Gebet genommen.
Um 18.20 meldet die Nachrichtenagentur AP: EU-Staats- und Regierungschefs einigen sich auf Duisenberg. Er sei bereit, im Januar 2002 abzutreten. Nachfolger werde der Franzose Jean-Claude Trichet. Wo die das wieder herhaben? Jedenfalls ist eine halbe Stunde später wieder alles offen. Die Deutschen, heißt es, hätten Probleme, der Kompromiß sei juristisch nicht haltbar. Um 19:23 berichtet Reuters, Jürgen Pfister von der Commerzbank befürchte steigende Zinsen für den Fall, daß sich der faule Kompromiß um Duisenberg durchsetzt. Die Finanzmärkte würden „sehr negativ reagieren“.
Eine Stunde später läßt Thomas Steinberg vom Bundespresseamt dem Kanzler die Auswertung der Rundfunk- und Fernsehnachrichten zukommen. Die Kommentare seien bissig, „die Stimmung in den deutschen Medien ist nicht günstig“. Steinberg gibt sich aber überzeugt, daß sich Kohl davon nicht beeinflussen lasse. Doch um 21.10 Uhr verbreitet dpa, daß Deutschland die Verhandlungen blockiere. Aus dänischen Diplomatenkreisen heißt es, Kohl habe den Kompromiß verworfen. „Wir beginnen wieder bei Null.“ Etwas später sickert durch, daß Kohl mit dem Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer gesprochen habe. Der wolle den Kompromiß nicht mittragen.
Im Pressesaal bilden sich deutsch-französische Grüppchen. Die Deutschen Journalisten wollen wissen, warum Chirac so stur ist, und werden über einen Staatsstreich vom 14. Mai 1997 aufgeklärt. Damals hätten die Notenbankchefs ohne politische Konsultationen Duisenberg auf den Schild gehoben. Die Deutschen hätten nie verstanden, was das in französischen Augen bedeute: In einer so wichtigen Frage hätte Bonn nicht zulassen dürfen, daß Beamte die Politiker vor vollendete Tatsachen stellten. Bonn hätte die von Paris frühzeitig angemeldeten Bedenken ernst nehmen müssen. „Chirac vergißt so was nicht.“
Holländische Journalisten erinnern nebenbei an die bekannte Abneigung Chiracs gegen Holländer: „Für den sind wir ein Volk von kiffenden Freaks.“ Das wird Chirac später bestätigen. Das Ganze sei kein deutsch-französischer, sondern ein holländisch-französischer Konflikt, erklärte der Staatspräsident. Um 23 Uhr wird es auch französischen Journalisten zuviel. „Chirac ist ein Irrer“, sagt einer, der bis dahin die französische Linie vertreten hat. „Der will das Datum festschreiben, an dem sich Duisenberg die Pistole an die Schläfe zu setzen hat.“
Der britische Regierungssprecher Alister Campbell will ein Scheitern der Verhandlungen nicht mehr ausschließen. Kurz nach Mitternacht flimmert ein Textband über die Fernsehschirme in den Presseräumen: Das Mittagessen ist zu Ende, die Ratssitzung beginnt in wenigen Minuten. Am 3. Mai um 0.35 Uhr beglückwünscht der Bundeskanzler den 1. FC Kaiserslautern zur Deutschen Meisterschaft und Europa zum Start des historischen Ereignisses. Sichtlich um Fassung bemüht verkündet er der Presse, der frisch gekürte EZB-Präsident Wim Duisenberg habe sich aus freien Stücken und ohne äußeren Druck entschlossen, im Jahr 2002 aus Altersgründen seinen Job aufzugeben. Den genauen Zeitpunkt werde Duisenberg in voller Unabhängigkeit selbst bestimmen.
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