: Erkundungen am Zeitloch
■ Die Kammer Neubrandenburg erinnert an Leben und "Hausmusik" in der Platte
Neue Farben hat das Land. Fürs erste lange Maiwochenende hat Neubrandenburg sich aufgeputzt. Im blanken Spiegel des Tollensesees segeln Wolken, dämmriger Wald verwartet seine Zeit, Autolack blinkt vieltausendfach im Abendlicht. Freundlich lindgrün, cremeweiß und erdbeersahnerot lagert breit hin an der Bundesstraße 96, was noch vor Jahr und Tag im braunstarrenden Gewand sich zeigte. WBS 70 ist nicht wiederzuerkennen.
Die Wohnungsbauserie 70, eine ingeniöse Erfindung der Berliner Bauakademie für die industriell gefertigte Aufbewahrung des neuen Menschen, trat zu Beginn der 70er Jahre zuerst in Neubrandenburg ins real reglementierte Dasein. Von Rostock-Lichtenhagen bis Dresden-Prohlis, WBS 70, vulgo „die Platte“, uniformierte die Erfahrung. Wer einmal hier wohnte, wußte, wie der Volksgenosse lebt. Naßzelle da, Kinderzimmer dort und das Sofa an der langen Wand im Wohnzimmer, kein anderer Ort nirgends im Drei- Raum-Behältnis für den Dreisitzer. Wärmeisoliert und optimistisch umgefärbt, trägt das alte Gehäuse heute eine neue Haut. Drinnen singt's und summt's wie eh und je. Die Wasserspülung zwei weiter oben, ganz rechts außen gurgelt noch immer durchs Schlafzimmer: Sag mir, wo du wohnst, ich sag' dir, ob du schnarchst.
Im Kammertheater liegt „die Platte“ am Meer. Leicht gekräuselt stellt das Bodentuch den Strand vor. Eine grün-weiß gestreifte Markisenwand bietet Schutz vor stürmischem Wetterwechsel. Unterm Spitzdach des drei Stockwerke hohen Hausturmes leuchtet ein rotes Herz in der Dunkelheit. Von den Sofawänden der sechs Zimmerzellen röhrt der Hirsch. Ein beengt, expressiv rosarot gemusterter Setzkasten mit Mittelschacht. Statt der Treppe dienen eine Feuerwehrstange und Feuerfluchttritte zum Auf- und Abstieg.
Sechs Typen – gekrümmt, verklemmt
Drinnen haust der Eigensinn. Der singt und blökt, knurrt und wiehert, stößt sich den Kopf. Wer sich nicht duckt, ragt schnell einmal durch die Decke des Wohnungsnachbarn. Sechsmal ein Typus. Der biomechanisch animierte Matrose (Oliver Dassing), der landentfremdete, grimme Bauer mit Stiefeln und Hütchen (Werner Hennrich), die schmerzliche Witwe im Bieder-Kostüm (Beate Biermann), das Püppchen Rothut (Iduna Hegen), der Athlet (Peter Müller), eine überdimensionale Dame aus dem Freak-Fotoalbum von Diane Arbus (Annette Wurbs). Ein jeder richtet sich ein. Biegt sich, krümmt sich, steht aufrecht und verklemmt sich. Abenteuerlustig zieht der arrangierte Mensch aus seiner Buchte aus und landet doch enttäuscht nur in der Nachbarzelle. Annäherungen werden abgewunken, zugelassen, abgebrochen. Kleine Eifersüchteleien tragen die Männer mit Imponiergehabe und Platzpatronenrevolver aus. Zum Glück stirbt keiner, eine Umarmung feiert die spielerische Wiederauferstehung. Ein Papierblumenstrauß wird überreicht, aber die Liebe kennt nur die Geste des Besitzergreifens. Finsteren Blicks und wieder allein zerreißt der Bauer seine Tapete. Dazu leuchten die Sofas.
„Eine kleine Hausmusik“ heißen diese Paralipomena für ein Stück, das nicht stattfindet. Marlis Hirche hat regielich angeleitet und die Bühne entworfen, Jürgen Kurz das Liedgut einstudiert. Das bedeutet nicht mehr, als es vorstellt. Das Leben in der Wabe. Die Wohnung als Außengrenze des Ichs, Isolation, die dauerhaft nicht durchbrochen werden kann. Aus der Stille wachsen Gesänge, „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ und „Ich hab' die Nacht geträumet“. Es sind die alten Weisen, die in den Köpfen der Menschen widerhallen, „über einen längeren Zeitraum lebendiges Liedgut nationalen Charakters“ (Großes Wörterbuch der Musik).
Die Lieder sind klüger als die Münder, die sie singen. Sie erzählen von Sehnsucht nach Heimat, die in der Platte trostlos bleibt. Des Bauern Scholle, nach der er unter der Tapete fahndet, liegt draußen. Ganz Neubrandenburg zieht wochenends hinaus in den grünen Schrebergartenring um die Stadt.
Die Kammerleute nehmen sich von jeher die Ruhe, die der gesellschaftliche Wandel den Menschen austreibt. Das ist Programm, deshalb kommen die Berliner von Neubrandenburg nicht weg, kehren gar, wie Iduna Hegen und Werner Hennrich, vom Prenzlauer Berg ins waldige Unterland heim. Störrisch schlagen die gelernten DDR-Menschen hier der immer noch neuen, mußelosen Zeit ein eigenes, ein gemächlicheres Taktmaß entgegen, erkunden Nebenpfade in die MacGegenwart.
An der Straße in den Neubrandenburger Wetterwinkel mahnen Schilder „Kein Grund zum Rasen“. Und irgendwo da draußen gibt es ein Zeitloch, durch das der Weg ins unbekannte Innere des Deutsch-Landes führt, wo nicht mehr DDR herrscht und noch nicht Bundesrepublik. Das Kammertheater Neubrandenburg fungiert als Seismograph in diesem Zeitloch. Nikolaus Merck
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen