■ Vorschlag: Silberschnallen und Sprayfrisuren: In The Nursery auf der Insel
Kirchengeläut, Streichereinlagen, Harfen, Gregorianische Gesänge, Cembaloklänge, Pauken und Posaunen und der Gesang der Wale: In The Nursery schrecken vor nichts zurück. Sie blubbern und wabern wie Meditationsmusik, wie der Soundtrack zu einem Naturfilm über das Geschlechtsleben von Wildblumen auf südkoreanischen Gebirgswiesen. Ab und zu taucht ein todgeweihter Loop auf, um sogleich wieder im Sumpf ihres symbolistischen Geklingels unterzugehen. Jede noch so vorsichtig piepsende Anspielung auf musikalischen Fortschritt wird in süßen Harmonien in Moll eingegossen und verkleistert. Brüche gibt es nicht.
In The Nursery gibt es seit 1981. Bei ihnen zählt nur die Entfaltung des Sounds im Augenblick. Die eindrücklichsten ihrer mehr als fünfzehn Alben sind in einer Soundtrack-Reihe erschienen, die imaginäre und reale Filme unterlegt wie „The Cabinet of Doctor Caligari“. Im Platteninfo zur aktuellen CD, „Lingua“, bedienen sie sich des Spanischen, Französischen, Japanischen. Sie benutzen chilenische Lieder und Texte der Maya wie Ornamente, deren Funktion und Bedeutung keine Rolle mehr spielt. In The Nursery betreiben Religionsbricolage, beschäftigen sich mit dem Leiden, der Barbarei und dem Aufruhr in fernen Ländern. Aber all das ist vollkommen austauschbar. „Man muß nicht verstehen, was gesagt wird.“
In Interviews berufen sich In The Nursery nicht nur auf Morricone, sondern auch auf Bruckner. So ist es auch der retrospektive Respekt vor dem Umgang mit klassischem Kulturgut als nicht weiter definierter vergangener Wert, der heute abend viele einsame, ungeliebte Grufties auf die abgeschiedene Insel treiben wird. Hier werden sie sich von ihrer Unzufriedenheit mit der durchrationalisierten Zivilisation erholen, hier finden sie Trost. Für diejenigen, die dessen nicht bedürfen, werden sie sich inszenieren, mit Silberschnalle, Sprayfrisur und Schnickschnack, und damit den Film ersetzen, der eigentlich im Hintergrund eines jeden Konzerts von In The Nursery laufen sollte. Susanne Messmer
Heute, 21 Uhr, Die Insel, Treptower Park
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