■ Vorlesungskritik: Bildung als Utopie
Der Tübinger Germanist Klaus-Detlef Müller denkt antizyklisch. In den sechziger Jahren, als die etablierte Germanistik den kommunistischen Dichter nur mit spitzen Fingern anfaßte, promovierte Müller über Marxismus und Ästhetik bei Brecht. Ein Jahrzehnt später, als die Weimarer Klassik mangels Relevanz in Verruf geraten war, habilitierte er sich über die Autobiographie der Goethezeit. Und ausgerechnet im Brecht- Jahr widmet der Mitherausgeber der Großen Kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe seine Vorlesung nicht dem Jubilar, sondern kehrt mit dem „deutschen Bildungsroman“ zu Goethe zurück.
Zunächst nähert sich Müller dem Bildungsbegriff jener Epoche. In ihm sucht er aber nicht das „Programm“ des Bildungsromans, sondern nur die „geistesgeschichtliche Voraussetzung seines Individualitätsbegriffs“. Denn die bedeutendsten Bildungsromane, darunter Goethes „Wilhelm Meister“, waren längst entstanden, als Hegel der Gattung eine Theorie aufpropfte. Fortan konnten überzeugende Bildungsromane, Thomas Manns „Felix Krull“ etwa, nur noch als „bewußte Parodie“ entstehen. Der Schwabe Hermann Hesse hingegen, zu solch ironischer Distanz Zeit seines Lebens kaum fähig, legte mit dem „Glasperlenspiel“ ein Werk vor, für das Müller nur zwei Wörter kennt – „epigonal und trivial“.
Daß Müller über sein großes Thema wenig inspiriert doziert, leise, ausdruckslos und unter ständigem Räuspern, ist an diesem Ort gar nicht schlimm. Bildung als „eigentliche Verwirklichung des individuellen Daseins“ – das ist in Tübingen, der Universität mit angeschlossenem Dorf, keine Reminiszenz an die Goethezeit. Es ist dort noch immer die Raison d'être eines den banalen Realitäten des 20. Jahrhundert weitgehend entrückten akademischen Milieus. Den Dichter Heinrich von Kleist hatte der Zweifel an der Heiligkeit der Bildung, der er „die kostbarsten Opfer“ gebracht hatte, schon 1801 in eine existentielle Krise gestürzt. Der Tübinger Akademiker ist von solchen Anfechtungen bis heute verschont geblieben.
Müller hingegen, den seine wissenschaftliche Laufbahn immerhin schon für zwölf Jahre nach Kiel geführt hatte, läßt Zweifel durchaus zu. Daß eine Gesellschaft um so vollkommener sei, je mehr sich die Individuen mittels Bildung vervollkommnen, könne durchaus als „abstrakt-ideologische“ oder „weltfremd-idealistische“ Vorstellung erscheinen. Gleichwohl verteidigt er sie als „anspruchsvollste Utopie einer menschenwürdigen Gesellschaft“.
Müller selbst aber fühlt sich als autonomes Individuum an der Uni offenbar immer weniger ernst genommen. Als er am Schluß ankündigt, die Vorlesung falle wegen einer „auswärtigen Verpflichtung“ in der kommenden Woche leider aus, fügt er süffisant hinzu, dafür müsse er neuerdings „die Zustimmung des Präsidiums“ einholen. Ralph Bollmann
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