: Existenzbeweise
Von Sammelbesprechung mag man im Zusammenhang mit „Holocaust-Literatur“ nicht sprechen. Auch vor der Selektion guter und schlechter Bücher schreckt der Rezensent zurück. Anmerkungen zu neuen Erinnerungsbüchern, 53 Jahre nach Kriegsende ■ Von Michael Westphal
Die Zahl der Holocaust- Überlebenden nimmt demographisch kontinuierlich ab. Bald wird niemand mehr aus eigener Erfahrung davon berichten können. Dennoch sind gerade in den letzten Jahren bemerkenswerte, meist literarische Berichte vorgelegt worden, und auch die aktuellen Verlagsprogramme zeigen eine auffällige Präsenz von Erinnerungsbüchern. Als „Verweilen beim Grauen“ faßte ein Essay im Merkur vor einigen Jahren Bücher über den Holocaust zusammen.
Haben komprimierte Darstellungen dieser Art zwar den Vorteil, einen Überblick zu bieten, so werfen sie auch die Frage auf, nach welchen Kriterien der Rezensent Ausschau halten soll. Soll er am Ende, polemisch gesagt, selektieren, die guten rechts, die schlechten links? Soll er den Büchern seine Aufmerksamkeit widmen, die besonders intensiv die Schrecken der Lager schildern und ganz nah an das Grauen herankommen? Und wie sieht es mit Fiktion, mit Dichtung aus? Wird sie problematisch, wenn Wahrhaftigkeit, Authentizität, Zeugenschaft beansprucht werden?
„Ich plädiere allerdings sehr wohl dafür“, schreibt Sem Dresden in seiner Schrift „Holocaust und Literatur“, „den Unterschied zwischen all diesen Dokumenten nicht zu groß anzusetzen und statt dessen davon auszugehen, daß es unterschiedliche Arten gibt, eine unzureichende und unsagbare Wirklichkeit zu beschreiben und anzudeuten.“ Und weiter: „Es geht nicht darum, ob wir es mit einem Dokument oder einem Roman zu tun haben, und es geht auch nicht um Wahrheit und Wirklichkeit. In erster Linie haben wir es mit einer Reihe von Texten zu tun, die alle auf ihre Weise über Wirklichkeit berichten.“
Deutlich wird das in Paul Steinbergs „Chronik aus einer dunklen Welt“, die er 50 Jahre nach seiner Rückkehr aus Auschwitz verfaßte. Sie beschreibt das Lagerleben als zergliederte Augenblicke, die allein der Körper diktiert: „Von 10 Uhr an muß man versuchen, mit den eigenen Kräften sparsam umzugehen, Minute für Minute. Ein Augenblick in der Nähe des Kanonenofens. Ein Besuch auf dem Donnerbalken...“
Auch die zentrale Episode des Buches, „Die Ohrfeige“, erfaßt einen herausgehobenen Augenblick, die Begegnung mit einem polnischen Bettnachbarn, durch den sich der Ich-Erzähler provoziert fühlt. Darüber gerät er in eine belastende eigene Schuldverstrickung: „In meiner Wut hatte ich die Hand erhoben und wollte ihn ohrfeigen. Im allerletzten Augenblick hielt ich in meiner Bewegung inne, und meine Hand berührte nur ganz leicht seine Wange. Während dieses Bruchteils einer Sekunde habe ich undeutlich in die Abgründe geschaut und sie ausgelotet ... und diese Szene, banal im täglichen Leben eines Todeslagers, hat mich mein Leben lang verfolgt.“
Die Augenblicksstruktur dominiert auch Wladyslaw Szpilmans Warschauer Erinnerungen „Das wunderbare Überleben“. Der Jude Szpilman überlebt in den unmöglichsten Verstecken in der besetzten polnischen Hauptstadt. Kurz vor der Befreiung durch die russischen Truppen kommt es zur Begegnung mit einem deutschen Wehrmachtsoffizier, der den Juden beim Plündern in einer Vorstadtvilla erwischt. „Machen Sie mit mir, was Sie wollen“, kapituliert der Pianist Szpilman. Der deutsche Offizier aber fragt statt dessen: „Was sind Sie von Beruf?“ Und Szpilman läßt auf einem verstimmten Klavier in den Ruinen des Hauses Chopins Nocturne cis- Moll erklingen.
Der Jude steht hier nicht einem Goldhagenschen „willigen Vollstrecker“ gegenüber, sondern einer der seltenen Ausnahmeerscheinungen, die noch nach ihrem persönlichen Gewissen zu handeln vermochten. Das Besondere dieses Buches vermittelt sich über die Tagebuchaufzeichnungen des Hauptmanns Wilm Hosenfeld, jenes Offiziers, der Wladyslaw Szpilman am Klavier gegenübersteht und ihm nicht nur sein Leben läßt, sondern diesen in der verbleibenden Zeit versorgt. In diesem document humain entblößt Wilm Hosenfeld sein eigenes malträtiertes Ich: „Ich schäme mich“, notiert er, „in die Stadt zu gehen, jeder Pole hat das Recht, vor uns auszuspucken.“
Was aber der Normalfall im besetzten Polen bereithält, vermittelt die Begegnung eines SS-Soldaten mit einem Juden, die ebenfalls mit einer Frage des Deutschen nach dem Beruf anhebt. Sie ist den „Notizen zu Lebensläufen“ entnommen, subtilen, teilweise surrealen Prosastücken von Ida Fink. Gerade in der Verschränkung von Fiktion und Dokument gelingt der Autorin eine Unmittelbarkeit von Zeit und Raum, die sie ausschnitthaft, wie aus einem Protokoll, einem Gedächtnis, einem Gespräch oder einer Fotografie präsentiert: „Beruf? wird der SS-Mann bald fragen. Lehrer, wird Dawid antworten, und mit dieser Antwort besiegelt er sein Schicksal.“
Das letzte Prosastück in diesem Band heißt „Die Spur“. Es skizziert in einer Art dialogischer Szene die verzweifelte Suche einer jungen Frau nach ihrer Schwester. In deren letztem Versteck, einer kleinen Kammer auf dem Dachboden, findet sie nach dem Krieg schließlich Lebensspuren von Stanislawa in Form einiger Papierschnipsel: „Augenblick mal – da ist noch ein Schnipsel ... Sie liest. ,Es ist das geschehen, was wir befürchtet haben ... heute früh ... plötzlich ...‘“ Die Papierfetzen und die Leerzeichen markieren das Fragmentarische als literarästhetisches Programm.
Ida Fink entzieht sich damit a priori einer Vollständigkeit der Schilderung, die es nicht geben kann. So wie die Brieffetzen nicht mehr zusammengefügt werden können, so bleibt jedes Erinnern an den Holocaust bruchstückhaft.
Von der Spurensuche und von der Vergeblichkeit dieses Bemühens ist auch Patrick Modianos „Dora Bruder“ geprägt. Der 1945 geborene französische Schriftsteller widmet sich darin weiterhin obsessiv seinem Thema: „Erzählen vom Verschwinden des Menschen“. Initiation für Modianos Erzählung ist eine Suchmeldung in der Silvesterausgabe 1941 von Paris-Soir, in der ein entlaufenes jüdisches Kind von den Eltern beschrieben wird. Während der Suche in Archiven, Stamm- und Kirchenbüchern und Polizeiunterlagen verdichtet sich sukzessive der Anfangsverdacht, daß Dora Bruder mit einem der ersten Transporte nach Auschwitz deportiert wurde.
Die Ortstermine im Internat des Mädchens, in den Behörden des Arrondissements im elterlichen Wohnviertel unweit der Porte de Clignancourt werden durch das erzählende Ich mit der eigenen Kindheit synchronisiert und so zur persönlichen Spurensuche. Auch bei dieser Rekonstruktion taucht immer wieder ein weißer Flecken auf, der, ähnlich dem Papierschnipsel, ein vollständiges Bild verunmöglicht: „Bis zum heutigen Tag habe ich keinen Hinweis gefunden, keinen Zeugen, der mir über ihre viermonatige Abwesenheit hätte Aufschluß geben können, und so bleibt diese für uns eine Leerstelle in ihrem Leben.“
Modianos Erzählen gelingt jedoch, diese Leerstellen als ein besonderes Zeichen hervorzuheben. Weil sein Suchen vom Verschwinden ausgeht, wird umgekehrt das Verschwinden zum letzten Beweis der Existenz.
Schlicht „Die Näherin“ nennt Sara Tuvel Bernstein ihre Erinnerungen einer Überlebenden, die mit ihren Eltern und Geschwistern in einem kleinen Dorf in den rumänischen Karpaten lebt. In Bukarest beginnt das junge Mädchen eine Ausbildung zur Schneiderin. Rasch zeigt sie sich als überaus talentiert, ein Umstand, der ihrer ganzen Familie zeitweilig ein Überleben sichert.
Über Ravensbrück und Dachau gerät sie mit ihrer Schwester und einer Freundin noch in Evakuierungszüge, die irrtümlich von den Alliierten bombardiert werden. Auf 22 Kilogramm Körpergewicht abgemagert, wird sie in einem bayerischen Klosterlazarett gesund gepflegt. Heimatlos, als displaced person, muß sie nach Kriegsende noch mehrere Jahre im Land der Täter ausharren.
Feldafing ist ihre letzte Station, wo sie zusammen mit einer Deutschen untergebracht wird, die jede Begegnung mit ihr meidet. In der Küche stellt sie die Witwe schließlich zur Rede: „Seit wir hier eingezogen sind, benehmen Sie sich, als wollte ich Sie mit dem Fleischmesser aufschlitzen. Aber wenn hier jemand Angst haben sollte, dann doch eher ich. Es war Ihr Volk, das uns in verschlossenen Zügen hierher gekarrt hat. Es war Ihr Volk, das mein Volk umgebracht hat. Ich habe nicht darum gebeten, hierher zu kommen. Ich war glücklich und zufrieden in meiner Heimat Siebenbürgen!“
Die Mißgunst weicht der Freundschaft, die bis nach Kanada reicht, wohin Sara schließlich als verheiratete Frau auswandert und nicht mehr ins Land ihrer Kindheit zurückkehrt.
Im Nachwort verweist ihre Tochter, die für die Veröffentlichung des Manuskripts sorgte, auf einen Aspekt, der noch die zukünftige Holocaust-Literatur beschäftigen wird. Gemeint sind die Zeugnisse der dritten Generation, deren einer oder beide Elternteile der Judenvernichtung entkommen sind und diese besondere Familienkonstellation als Bürde an die Kinder weitergegeben haben: „Als Kinder verspürten wir deshalb oft ein Gefühl der Unzulänglichkeit – wir konnten nichts tun, um den Schaden wiedergutzumachen, der ihr zugefügt worden war, um ihr die Chancen wiederzugeben, die ihr für immer genommen worden waren. Schlimmer noch, wir konnten nie einschätzen, welche Situation möglicherweise eine schlechte Erinnerung in ihr hervorrief.“
Vermächtnis der Erinnerung“ nennt Cheryl Pearl Sucher – beide Eltern haben Auschwitz überlebt – diese Last, die vor allem aus den erzählten Erlebnissen des Vernichtungslagers besteht: „Ich konnte mich an keine Zeit erinnern, in der er uns nicht von den Viehwagen erzählt hätte, den Selektionsreihen, den Leichengruben, den sadistischen Offizieren der Gestapo mit ihren geifernden Wachhunden. Ghettos und Konzentrationslager bevölkerten unsere Gutenachtgeschichten... Fast jeden Abend beschreibt er Orte, die so grausig waren, daß, wenn die Überlebenden dieser Schrecken nicht mehr lebten und Zeugnis ablegen konnten, kein Mensch glauben würde, daß es sie je gegeben hat.“ Wie mühsam es ist, trotz dieses belastenden Vermächtnisses ein eigenes Leben zu leben, auch wenn es „Leben mit Geistern“ ist, vermittelt dieser autobiographische Roman eindrucksvoll.
Sem Dresden: „Holocaust und Literatur“. Jüdischer Verlag, Frankfurt/Main 1997, 56 DM
Paul Steinberg: „Chronik aus einer dunklen Welt“. Hanser Verlag, München 1998, 34 DM
Patrick Modiano: „Dora Bruder“. Hanser Verlag, München 1998, 34DM
Cheryl Pearl Sucher: „Vermächtnis der Erinnerung“. Limes Verlag, München 1998, 42 DM
Ida Fink: „Notizen aus Lebensläufen“. Fischer Verlag, Frankfurt/ Main 1998, 32 DM
Sara Tuvel Bernstein: „Die Näherin. Erinnerungen einer Überlebenden“. Europa Verlag, München 1998, 39,80 DM
Wladyslaw Szpilman: „Das wunderbare Überleben. Warschauer Erinnerungen 1939–1945“. Econ Verlag, München 1998, 39,80 DM
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