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Schicksalsstunde für Mönchengladbach. Morgen, am letzten Spieltag der Bundesliga, könnte sich der bei Politkämpfern und reinen Ballästheten gleichermaßen beliebte Club für längere Zeit aus dem Fußballoberhaus verabschieden. Borussia, das war nach 1968 für viele die Fortsetzung des politischen Umbruchs mit fußballerischen Mitteln Von Holger Jenrich

Der Orgasmus ist Legende

1968 feiert Jubiläum. Ausgiebig, ausschweifend, ausufernd. Keine Woche ohne Gedenktage, ohne Nachrufe, ohne Sondersendungen. Da kommt man kaum noch hinterher: Ermordung Martin Luther Kings, Schüsse auf Dutschke, Pariser Mai, Notstandsgesetze, Biafra, Black Power, Prager Frühling – binnen weniger Monate wurde die Welt damals in ihren Grundfesten erschüttert. Im Kino lief „Spiel mir das Lied vom Tod“, in den Jukeboxen „Street Fighting Man“ von den Stones. Und Borussia Mönchengladbach spielte den Fußball zur Revolte: frech und frisch und immer feste nach vorn. Doch das ist Geschichte – am morgigen letzten Spieltag könnte sich der bei Politkämpfern wie Ballästheten gleichermaßen beliebte Club für längere Zeit aus der Bundesliga verabschieden.

Nicht nur in der Politik, auch in den Sportarenen gingen Ende der 60er alte Systeme unter und stiegen neue auf. Italiens betonesker „Catenaccio“ war aus dem Rennen, Rudi Gutendorfs defensiver „Riegel“ aus der Mode. „Vorwärts und alles andere vergessen“ hieß statt dessen die Parole – vor allem in der niederrheinischen Provinz. All jene Veränderer, die den protestierenden Studenten, den rebellierenden US-Schwarzen, den haschrauchenden Hippies Sympathien entgegenbrachten und den Taumel der zutiefst verunsicherten BRD-Gesellschaft genüßlich goutierten, hielten es sportlich gesehen mit der Borussia statt mit den bereits erfolgreichen Bayern. Vielen erschien der riskante Hoppla- Hopp-Fußball der Mönchengladbacher wie eine Fortsetzung des politischen Umbruchs mit fußballerischen Mitteln.

War die Gesellschaft schon gespalten in CDU oder SPD, in Frankenfeld oder Kulenkampff, in Beatles oder Stones, so mußte sie sich nun auch noch zwischen Bayern und Gladbach entscheiden. Beide Vereine verkörperten in den Folgejahren unterschiedliche Philosophien, Prinzipien, Systeme. Die Bayern standen für Nüchternheit, Sachlichkeit, Funktionalität, die Borussen für Radikalität, für Reform, für Utopie. Mit „Schönheit gegen Erfolg, Denken gegen Aussitzen, links gegen rechts“ beschrieb Fußball-Feuilletonist Helmut Böttiger das Verhältnis beider Clubs in jenen Tagen. Und vergaß „Arm gegen Reich“, „Gut gegen Böse“ hinzuzufügen.

Natürlich haben am Ende die Bösen gewonnen. Bayern München ist seit Jahrzehnten gleichbleibend erfolgreich, die Borussia steht nach 33 Jahren Bundesliga vor dem Abgrund. Doch in jenen Jahren, dem Zeitalter des Wassermanns, der APO und der „Mehr Demokratie wagen“-Versprechungen Willy Brandts wuchsen die Borussen zum alles überdauernden Mythos. Ein Mythos, der nach Böttiger „getragen war von den weiten Pässen Günter Netzers, die den Geist der Utopie atmeten“.

Besagter Fußballer, heute jenseits der 50, war inmitten der fußballernden Handwerker der Liga ein echter Künstler, ein Bonvivant, ein Genießer. Vor jedem Freistoß liebkoste er das Leder – und das Publikum wartete, erotisiert ob solch öffentlichen Vorspiels, auf den nach Wilhelm-Reich-Lektüre öffentlich diskutierten Orgasmus, den das Zappeln des Balls im gegnerischen Netz bedeutete. Netzer fuhr Ferrari statt VW, hörte Rock statt Schlager, trug Existentialistenzwirn statt Nyltesthemden. Dieser „Rebell am Ball“ war der erste und bisher einzige Popstar in Fußball-Deutschland. Und wenn er, seinen Mitspielern und dem enthusiasmierten Publikum damit ein Zeichen zur Attacke gebend, die blonde Langhaarmatte im Wind flattern ließ wie Revoluzzer ihre roten Fahnen, dann ging es dem Establishment – hieß dies Bayern, Mailand oder Köln – unwiderruflich an den Kragen.

Netzer ging 1973 nach Spanien – und Gladbachs Stern im deutschen 77er Herbst allmählich unter. Ausgerechnet in Wolfsburg, dieser Ärmelaufkrempler-Stadt mit Schröder-Mundgeruch, steht der Verein nun möglicherweise vor dem bitteren Gang in die Zweitklassigkeit. Borussia Mönchengladbach, fünfmaliger Deutscher Meister und heute ein stinknormaler Club, mag damit der Lächerlichkeit anheimfallen – dem Vergessen sicherlich nicht. Herbert Wimmers Flankenläufe werden in ewiger Erinnerung bleiben wie Herbert Wehners Zwischenrufe, Netzers Pässe werden im Gedächtnis haftenbleiben wie Willy Brandts Kniefall in Warschau. Und der fatale Büchsenwurf beim 7:1 über Weltclub Inter Mailand, der den Verein um den grandiosesten Sieg der Geschichte brachte, wird allemal legendär bleiben. Alles Quatsch? Spinnerei? Ausgemachter Blödsinn? Keineswegs. Denn seien wir ehrlich: Was ist schon die Weltrevolution gegen eine angeschnittene Flanke?

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