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Wortschmuggler & Wimperntierchen

Merkwürdige Gegend: Eine mehrseitige Annäherung an das österreichische Mühlviertel  ■ Von Balduin Winter

Glaubt bloß nicht, liebe zivilisationsmüde Antarktisreisende, die Welt sei schon restlos entdeckt. Überhaupt seid ihr auf falschen Fährten, wenn ihr meint, den Duft der großen Welt nur noch beim Songlinesurfen im australischen Busch oder beim Paragleiten im Byrrangagebirge erleben zu können – ohnehin ist das bloß die Unart der Welteneroberung in ihrer touristisch weichgespülten Form. Mag für euch, Freunde des göttlichen Kerosins, das Entdecken irgendwo in der Ferne liegen, tatsächlich beginnt es ein paar Schritte vor der eigenen Tür. Oder ein paar Schienenlängen entfernt, ein paar Wasserstraßen weiter. Kapert euch ein Paddelboot auf dem Wannsee oder einen Flachkahn auf der Spree, schippert die Elbe abwärts zur Nordsee, Ärmelkanal, rein in den Rhein, mainaufwärts, Main- Donau-Kanal und donauabwärts. Nutzt ausgiebig, ihr VaterlandsverächterInnen, die Möglichkeit des demonstrativen Staatsverlassens beim bayerisch-katholischen Passau, Tummelplatz nationalistischer Sumpferer, hebt höhnisch die Faust gegen die DVU-Veranstaltung in der Nibelungenhalle. Auf und davon, ein paar Kilometer weiter seid ihr im lieblichen Mühlviertler Exil, wo die Kirchen gleich etwas kleiner sind, der Dialekt in seiner unendlichen Rebellion gegen das Hochdeutsche „raunzig“ wird, der Nationalismus..., na ja, das Niveau der Stammtische dürfte sich von durchgängigen Standards nicht abheben. Immerhin hat man Deutschland verlassen und befindet sich in der großen weiten Welt.

Empfehlenswert, liebe Marrakeschexpreßkenner und Transsibbenutzerinnen, ist die Bahn zunächst nach und dann wieder von Linz, dortselbst mit der liebenswürdigen Umständlichkeit, daß der an schnelle Transfers gewöhnte Reisende am Hauptbahnhof erst aussteigen und in die Straßenbahn (Dreier) einsteigen muß, wobei es gar nicht so einfach ist, den einheimischen Fahrkartenautomaten eine Karte zu entreißen, so daß sich als günstige Alternative Schwarzfahren empfiehlt. Am Urfahraner Bahnhof geruhsam aussteigen, der „Anschlußzug“ der Mühlkreisbahn rollt bestimmt gerade an, Adrenalin sparen, so sind sie nämlich, die ÖsterreicherInnen, halt a bißl schlampert.

Eine andere Annäherung bietet die Bahn von Berlin nach Prag, dort umsteigen in den Fernzug Praha–Rimini mit Kurswagen nach Koper, ja, liebe Ouagadougou- und Dschibuti-Globetrotter, das sind wieder echt mitteleuropäische Verbindungen, endlich wieder. Aussteigen, Geheimtip, in Česke Budejovice, kurze Bierstärkung bis zum nächsten Bummelzug an den Moldaustausee im Böhmerwald, überhaupt sollte man jetzt mit der Zeit sorgfältiger umgehen, also dem gemächlichen Reisetempo der Bahn die eigene innere Uhr anpassen. In Hůrka, einem Ort vor Adalbert Stifters Geburtsort Horni Planá, aussteigen und mit der Fähre über den Stausee setzen, dann gehen Wanderwege in das Grenzgebiet weiter.

Hier, wo man nicht genau weiß, wo Südböhmen aufhört und das Mühlviertel anfängt und umgekehrt, hier kommen die Naturfreaks unter euch, die Waldanbeterinnen, die Einsamkeitsfanatiker, die Hochmoormelancholiker voll auf ihre Rechnung – und die Entdeckerinnen. Die Rede ist vom grenzüberschreitenden Böhmerwald, einem breiten Granitrücken mit großflächigen Wäldern, in denen man noch das Abenteuer des Verirrens erleben kann. Eine aufgrund des Granits dunkle Landschaft, dank des harten Gesteins ist die oberste Erdschichte gut durchwässert und artenreich, also Kategorie Märchenwälder, und daher auch voll von Feen, Schratten, Elfen und Siebenzwergen, dem Personal für Sagen und Legenden. Seltsam: Gegenüber den dramatischen Alpen ist die Gegend geradezu lieblich, wer aber stundenlang durch sie streift, kann sich schon mal verlassen vorkommen wie in einem Niemandsland – vielleicht weil sie voller Dämmerung ist und selten Weitblicke bietet.

Die aber haben es in sich: Ob Stifter-Denkmal, Bärenstein (der besonders!), Moldaublick, Hochficht (Vorsicht, Skizentrum...) Stinglfelsen, Dreisesselberg oder Plöckenstein, man blickt über weite Wellen Wälder, in der Senke eingelagert der große Stausee, mittlerweile recht dicht verbaut, Gastgewerbe, Urlauberhütten, dahinter die nächste Welle mit Špičak und Knižeci Stolec, in der Ferne die Rücken der Blanskýles, na, ihr Chichenitza- und Tehuantehep- Erstürmer, sagen euch diese Namen was? Hochwald, man kann es nur dem alten Stifter nachbrabbeln, Hochwald von der majestätischen Art. Mit Silberwindrauschen und Vogelgezirp, und manchmal ziehen mystische Nebel auf, eine Landschaft wie gemacht für Heimatfilme und Draculageschichten. Natürlich gibt's da Geschichten von Schmugglerbanden und blutigen Grenzzwischenfällen, vom Grenzwächter, der sich in die Lackenhäuser Contrebandière Köhlerliesel verliebt hat, sie aber irrtümlich bei einem Feuergefecht tötet, woran heute noch das „Liseibild“ am östlichen Zwieselhang erinnert; natürlich gibt es Horrorlegenden von Hexen und Zauberern auf dem „Blocksberg“, dem Plöckenstein im böhmisch-bayrisch-mühlviertlerischen Dreiländereck.

Durchaus kann es noch so weltgewandten, doch nichtsahnenden WandererInnen passieren, daß ihnen ein leibhaftiger Schmuggler über den Weg läuft. Keineswegs wie ein Schmuggler gekleidet, sondern mit wehendem, rotem Seidenschal, eine abgewetzte Ledertasche unter dem Arm, die eine Vielzahl von Zetteln und Wörtern enthält, Corpus delicti seines Gewerbes: Es ist der Wortschmuggler, von dem zahlreiche Legenden berichten, der mit Vorliebe Verse aus kleinen Sprachen über eiserne und Schengener Vorhänge schmuggelt. Manchmal taucht er in den Weinkellern des ostslowakischen Pukanec auf, dann wieder wandert er unterirdisch im Karst zwischen Ljubljana und Triest, klopft an Dichtertüren in Grebesac und Temesvar im Banat, kippt in Ottensheim auf dem Bauernhof der Familie Hackl vulgo Kottner einen doppelten Roggenschnaps, doppelt gebrannt, doppelt eingeschenkt, um dann den TeilnehmerInnen des Ranitztreffens die sorbische Dichterin Róža Domašcyna vorzustellen. Denn im Mühlviertel lädt der Mostbirnholzstecher und Buchkünstler Christian Thanhäuser seit 1995 alljährlich eine Autorin oder einen Autoren aus einem der an Österreich grenzenden Länder ein, die dort einen Monat lang arbeiten, Texte oder Gedichte schreiben, die in der Edition des V.O.-Stomps-Preisträgers als bibliophile Bücher erscheinen. Hier sollen auch alle Sprachen zu Wort kommen, die an den Ufern der Donau gesprochen werden – keine geringe Aufgabe.

Ein gut sortierter Schnaps- und Weinkeller, in dem die gesamte Promilleprominenz zwischen Moldau und Karst anzutreffen ist, sorgt für den richtigen Schwung beim hemmungslosen Umgang mit Messer und Skalpellen, mit Schabern und Sticheln. H.C. Artmann, gelegentlich der Poetenschaft beschuldigt, schleicht sich hier manchmal unter dem Vorwand des Büchermachens ein.

Auch für die Wissenschaft hat das Mühlviertel einiges zu bieten. Vor kurzem hat eine Biologin ein Wimperntierchen entdeckt, ein vierzigtausendstel Millimeter winzig, die Avestina ludwigi, ein schwer enttarnbarer Einzeller, weil er nur kurz auftaucht und sich dann wieder für tausend Jahre verbirgt, ruhend unter der Erde, im Myzel seiner Aufzeichnungen, Lettern, Ameisen, Avestinae. So berichtet jedenfalls die Legende von Drago Jančar.

Merkwürdige Gegend.

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