: "Weiße machen alles"
■ Afrikanische Nächte sind lang. Der britische Ethnologe und Reiseschriftsteller Redmond O'Hanlon suchte im Kongo den letzten Saurier. Ein Gespräch über Dschungelfieber, Zauberer, Fetische und die Angst, keine Geschicht
taz: Mr. O'Hanlon, warum ist der Dschungel Ziel Ihrer Reisen?
Redmond O'Hanlon: Wir kommen aus den Regenwäldern und dem Dschungel. Es stimmt, daß man dort in seine Kindheit zurückkehren kann. Manchmal weiß man nicht, ob etwas ein Schmetterling, eine Fledermaus oder ein Vogel ist. Auf Borneo gibt es Schmetterlinge, die größer sind als manche Vögel. Ich liebe dieses Gefühl von Überraschung. Im Kongo sind die Wälder so voll, daß man in fünf Tagen mehr Affenarten sieht als in drei Wochen in Südamerika. Außerdem glaube ich noch halb an eine Theorie, von der ich meiner Frau Belinda versprochen habe, sie niemals wieder zu erzählen. Sie ist nur auf männliche englische Reisende aus früherer Zeit anwendbar...
...deren Reiseberichte Sie in Ihren Büchern häufig zitieren.
Ja. Die Homosexuellen unter ihnen lieben die Wüste, lieben stolze, leere Landschaften. Alle haben die Wüste bereist. Heterosexuelle hingegen machen ihre Reisen die Flüsse aufwärts ins Landesinnere, zu stark bewaldeten Orten, an denen es heiß und feucht ist.
Völlig klar.
Ich meine das ernst. (lacht) In Paris haben sie meine „grande théorie de voyage“ wunderbar gefunden. Auch die homosexuelle Gemeinde von San Francisco hat mir recht gegeben. Sie mochten die Wüste. Niemand sei ihnen je im Dschungel begegnet.
Ist das Ihr einziger Beitrag zur Psychologie des Reisens?
Ich habe noch einen zweiten, der gut dazupaßt und auf einem Experiment von mir beruht. Ich habe da einen kleinen Teich in meinem Garten in Oxford. Voller Frösche, Larven und Wasserfliegen. Frauen stehen Teichen absolut gleichgültig gegenüber, weil Teiche so „weiblich“ sind. Freud hatte in manchen Punkten ganz recht. Der Teich ist eine Vagina im Garten, ein wunderbarer, nasser Ort voller Leben. Heterosexuelle Männer starren wie gebannt hinein und beobachten fasziniert die Larven und Käfer. Homosexuelle Männer sagen, o Gott, wie widerlich. Sie weigern sich, ihn auch nur anzuschauen.
Sie nehmen stets massenweise Reiseberichte und Bestimmungsbücher mit in den Dschungel.
Man kann sie nur in einem Kanu transportieren. Ich habe alles mit Klebeband umwickelt. Wenn man sich die Seiten jetzt ansieht, sind sie voll mit verschiedenfarbigen Schimmelpilzen.
Betrachten Sie den Dschungel durch die Augen derer, die vor Ihnen dort waren und darüber geschrieben haben?
Man sollte absolut alles lesen, bevor man aufbricht. Es gibt die Theorie, daß man vollkommen unschuldig und naiv sein sollte. Aber wenn man das ist, hat man keine Ahnung, was man sieht. Nichts hat irgendeine Bedeutung – und sei es nur ein Vogelruf. Außerdem lese ich nicht aus Gelehrsamkeit. Ich kann nicht aufhören zu lesen, weil ich mir denke, der nächste Absatz könnte eine Information enthalten, die mir das Leben retten wird. Das wird zu einer fixen Idee und ist ein enormes Vergnügen. Wenn man dann weg war und wieder zurückkommt, schaut alles, was man gelesen hat, anders aus, und man weiß, daß man noch viel mehr lesen sollte. Das ist einer der Gründe, warum ich sechs Jahre lang an dem Kongobuch geschrieben habe. Dazu kommt, daß die Zauberei im Kongo so schwer zu vermitteln war. Bei einer Lesung habe ich das Kapitel aus „Kongofieber“ vorgelesen, in dem Doku, der Zauberer, mir einen Fetisch gibt. Danach kam ein Anthropologe zu mir und sagte, ich solle mich nicht über die Stimme des Zauberers lustig machen, indem ich sie so hoch und verzerrt lese. Die hohe Stimme des Zauberers bedeute, daß Doku ein mächtiger Zauberer ist, denn die männliche Trommel ist die höchste im Tonregister und die weibliche die tiefste – die, die die Erde vibrieren läßt. Das hatte ich nicht gewußt.
Haben Sie wirklich gedacht, am Lac Télé, dem Ziel Ihrer Reise im Inneren des Kongo, würden Sie einen Dinosaurier sehen?
Ja, das heißt nein. Ich dachte, vielleicht naiv, es könnte irgendein großes Tier in diesem See leben. Vielleicht kein Dinosaurier, denn schon ein Schamhaar eines Dinosauriers würde genügen, irgend etwas, aus dem man seine DNA analysieren könnte.
Haben Sie durchs Lesen eine Vorstellung vom Naturkonzept der Kongo-Bewohner bekommen?
Hinweise darauf. Ich habe eine 600seitige französische Monographie über die Lebenswelt der Pygmäen gelesen, die nur in Paris zugänglich ist. Diese Art der Vor- und Nachbereitung kostet viel Zeit, aber ich dachte mir: Ich habe da eine so wunderbare Geschichte, und ich möchte sie nicht kaputtmachen. Also bin ich jeden Morgen so aufgewühlt aufgewacht, daß ich kaum Luft bekam, und habe immer noch mehr Schulden gemacht, um weiterschreiben zu können. Nach sechs Jahren hatte ich Schulden von 32.000 Pfund. Als ich mich schließlich dazu entschlossen habe, nur mehr nachts zu schreiben, wurde es mit einem Mal leicht. Über das Afrika südlich der Sahara muß man nachts schreiben. Denn nachts ergibt diese abgeschlossene, klaustrophobische Traumwelt plötzlich Sinn. In der Nacht werden die afrikanischen Geister lebendig. Die Nacht dort hat ja auch zwölf Stunden.
Eines Nachts ist Ihnen in einer Hütte im Kongo Ihr persönlicher Geist erschienen.
Das war eine echte Halluzination. Mächtig und schrecklich. Es war auch das stärkste Dope im Spiel, das ich je geraucht habe.
Tags darauf konnten Sie nicht mehr zwischen wirklich und unwirklich unterscheiden. Sie schreiben, daß Sie nicht mehr wußten, ob Sie in irgend jemandes Traum sind oder irgend jemand in Ihrem.
Genau so funktioniert das Leben dort. Deshalb ist es auch möglich, daß man von jemandem aus dem Nachbardorf, den man nicht einmal kennt, verflucht wird. Sofort wird man depressiv, und alle meiden einen. Diese Externalisierung, dieses Sichtbarwerden mag für den einzelnen in Ordnung sein, aber es ist eine Gefahr für die Allgemeinheit. Es ist eine völlig andere Art, mit Dingen umzugehen.
Sind deshalb Fetische, die vor Zauber schützen, so wichtig?
Sie sind selbst ein bißchen angsterregend. Aber es ist besser, die ganze Zeit ein bißchen Angst zu haben. Denn man weiß, die große Angst könnte kommen, und wenn man halb darauf vorbereitet ist, kann man besser mit ihr umgehen. Wir machen es ja nicht anders, wenn wir uns mental auf ein kommendes Unheil einstellen. Einmal pro Woche stelle ich mir vor, wie ich mit dem Tod meiner Frau Belinda fertig werden könnte.
Haben Sie den Fetischbeutel, den Sie von Doku, dem Zauberer, bekommen haben, je geöffnet?
Nein, aber am Flughafen in London habe ich auf einem Bildschirm der Sicherheitskontrolle gesehen, daß ein Finger darin ist. Ich weiß aber nicht, ob es ein Kinder- oder ein Affenfinger ist.
Letztlich hatte all die Zauberei auf Sie aber keine Wirkung. Sie sind trotz aller Warnungen zum Lac Télé gegangen.
O nein, sie hat gewirkt. Am Ende hatte ich sogar eine Angst, die weitaus schlimmer ist als Todesangst: Ich wollte lieber sterben als ohne Geschichte zurückkommen. Meine Reisebegleiter, Simon im Amazonas und Lary im Kongo, die zum Fotografieren dabeiwaren, verloren ihr Publikum, als ihre Kameras voll Wasser waren. Also befiel sie der Horror. Aber wenn man darüber schreibt, sein Publikum immer mit hat, kann man Dinge tun, die man als Nichtschreibender nicht tun könnte. Man spürt Leser hinter sich stehen, ist nie allein. Hat man keine Geschichte zu erzählen, bleibt einem nichts mehr.
Aber zugleich funktioniert doch die mitgebrachte, gewohnte Ordnung nicht.
Ja, und das ist schrecklich. Man liegt in einem Zelt, das sich langsam in seine Bestandteile auflöst, und betrachtet seinen Fotoapparat: Mit einem Mal wird es vollkommen absurd, sich die intellektuelle Leistung und die Millionen von Menschen vorzustellen, die hinter der Entwicklung dieser Maschine stehen. Man schaut ein Penguin-Taschenbuch an und fragt sich, wie die Idee entstehen konnte, aus Bäumen Papier zu machen, wie die Schrift erdacht werden konnte. Mit einem Mal wirkt alles so außerordentlich zerbrechlich. Dieses Gefühl hatte ich auch noch drei Wochen nach meiner Rückkehr nach Oxford. Alles kam mir dort so kostbar vor: daß ein Staat Geld dafür ausgibt, daß Leute über Anthropologie, Geschichte, Mathematik und Literatur nachdenken. Man schaut um sich und denkt: Was für eine ungeheure Errungenschaft.
Trotzdem beschreiben Sie den Kongo nicht als Exotikum. Sie schreiben, als hätten Sie der dortigen Logik folgen können.
Schlußendlich funktioniert das auch. Dann wird es wahrscheinlich auch Zeit zu gehen, weil man aufhört, die Dinge wahrzunehmen. Am Anfang ist man wie ein Baby – ausgeliefert, unwissend. Man verläßt sich auf die Leute und will von allen geliebt werden. Im südamerikanischen Dschungel habe ich einmal die Augen aus dem gekochten Schädel eines Affen ausgesaugt. Man hatte mir erklärt, das Angebot dazu bekämen nur Freunde. Also hab' ich es gemacht und bekam zu hören: „Wie konntest du so etwas Widerwärtiges tun? Ihr Weißen würdet auch wirklich alles machen, damit man euch liebt.“ Man darf auch nicht zu deutlich zeigen, wie bedürftig man ist.
Haben Sie Ihre Wahl getroffen zwischen der grausamen Urwüchsigkeit weniger entwickelter Gesellschaften und den Errungenschaften der Zivilisation?
Das Zurückkommen ist paradiesisch. Man möchte auf die Knie fallen und den Boden küssen. Nein, ich hege keinerlei Romantizismus. Aus reinem Egoismus denkt man sich natürlich, daß zum Beispiel die Art der Pygmäen, mit Netzen zu jagen, erhalten werden sollte. Aber wenn man sich umschaut, stellt man fest, daß es keine alten Menschen unter ihnen gibt. Sie sterben mit dreißig und heiraten mit zwölf. Ein jahrtausendealter Selektionsprozeß führt dazu, daß es nur schöne, junge und gesunde Pygmäen gibt. Wenn sie all das nicht sind, sind sie tot. Interview: Julia Kospach
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