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Rheinisches Passionsspiel

Das Abstiegsspiel des 1. FC Köln war ein Drama, wie es Schiiten nicht besser hätte gelingen können. Ein Kölner Iraner, der mit Brüdern und Nichten in Block 28 mitlitt, fühlte sich jedenfalls ganz zu Hause  ■ Von Navid Kermani

Köln ist nicht nur eine katholische Stadt. Nirgends in Deutschland leben mehr Schiiten, Iraner vor allem. Gemeinsam ist dem Katholizismus und der Schia neben der ästhetischen Fülle der religiösen Vermittlung insbesondere die ostentative Form der Trauer, sei es bei Todesfeiern, sei es in den Bußprozessionen und Passionsspielen. Der Hang zum anarchischen Jux, mag ihr Rahmen der Karneval oder die nationalen Volksfeste Irans sein, ist nur die andere Seite des Trauerkultes. In der Anthropologie des Affektes gilt: Niemand versteht exzessiver zu lachen als die Schmerzensbereiten.

Doch vor dem Tag, als der 1. FC abstieg, schien den Kölnern die Kultur des Leidens ein wenig abhanden gekommen zu sein. Spätestens mit dem Durchmarsch der Kulturindustrie hat das karnevalistische Prinzip zwar triumphiert; die Fröhlichkeit, wie sie RTL von Prunksitzungen überträgt, wirkt aber bloß wohltemperiert.

Eine umgekehrte Entwicklung hat die Islamische Revolution in Iran gezeitigt. Bestimmte Inhalte der Volksfrömmigkeit verabsolutierend, hat sie die gewohnte Dialektik von „Ruhozi“, der iranischen Variante der Commedia dell'arte, und „Taziye“, dem schiitischen Passionsspiel, außer Kraft gesetzt. Zumindest in den achtziger Jahren verschwand das öffentliche Lachen, offiziell verpönt waren Tanzmusik, ausgelassene Feste und das Geschäft der Komödianten.

Der Fußballspieler Khodadad Azizi ist Kölner und Iraner. Er war maßgeblich an zwei Ereignissen beteiligt, die zu einer temporären Umkehrung der Verhältnisse führten. Mit sensationellen Pässen in den Qualifikationsrunden und einem unglaublichen Tor in Melbourne hat Azizi die fußballerischen „no names“ aus Iran zur Weltmeisterschaft geführt. Mit einer unerwarteten Ladehemmung aber hat er dazu beigetragen, daß der ruhmreiche 1. FC Köln vergangenen Samstag aus der höchsten deutschen Spielklasse abgestiegen ist. Daß Azizis Vorname sich mit „Gabe Gottes“ übersetzen läßt, bestärkt Anhänger seiner beiden Mannschaften in der Ahnung, es mit einer Fügung zu tun zu haben.

Azizis entscheidender Treffer am 29. November vergangenen Jahres gegen Australien fiel zu einem Zeitpunkt, als niemand ihn für möglich gehalten hätte. Kurz vor Schluß war es, als Azizi zu einem Sprint über das halbe Feld ansetzte, wie im Rausch die gegnerische Abwehr überlief, den Torhüter in die falsche Ecke niedersinken ließ, den Ball ganz gelassen ins Tor schob und dadurch in seiner Heimat eine kollektive Verzückung, eine nationale Party auslöste. Ähnlich wie die Deutschen 1990 mit dem WM-Sieg auch die Einheit feierten, floß in die Freude der Iraner über die WM-Qualifikation der Triumph über das Establishment bei den vorangegangenen Präsidentschaftswahlen ein. Ein subversives Happening war es, wie es hiesige Banalphilosophen gern in den Technoparaden unserer Spaßgeneration sehen würden: demonstrative Freude als Demonstration. Glaubt man den Berichten, war praktisch die gesamte Bevölkerung Teherans auf den Beinen.

Seit dem letzten Sommer spielt Azizi beim 1. FC Köln. Damit gehört er zu den ersten drei Iranern, die von europäischen Profivereinen verpflichtet worden sind. Daß Iraner in der Bundesliga spielen, hat von Beginn an Aufsehen erregt. Noch immer ist es so, daß ihre Namen im Fernsehen fast durchweg mit dem Zusatz der Nationalität versehen werden: „der Iraner Azizi“, „der Iraner Daei“, „der Iraner Bagheri“.

Während die beiden anderen Iraner, die in Bielefeld tätig sind, eher distanziert wirken, ist Azizi mit seiner Fröhlichkeit, seinem Spielwitz und seinem sehenswerten Torjubel schnell zum Liebling der Fans und der lokalen Presse avanciert. Vor einigen Monaten, als Köln noch zu siegen verstand, titelte die Boulevardzeitung Express: „Die Gabe Gottes rettet Köln.“

Aber Azizi trifft nicht mehr, und ebensowenig die übrigen Kölner. In fünf Spielen haben sie keinen einzigen Punkt gewonnen und damit den sicher geglaubten Klassenerhalt vertändelt. Der Kölner ist untröstlich. „Ich bin tieftraurig“, sagt Willy Millowitsch, „eine grausame Geschichte“ erlebt Wolfgang Overath, von einer „Erniedrigung“ spricht der Express. Es handelt sich keineswegs nur um Fußball. Mit dem Abschluß dieser Saison ist ein Weltbild obsolet geworden.

Wer mit dem FC aufgewachsen ist, hatte in seinem Leben eine Konstante, die so stabil war wie die D-Mark. Das denkbar Schlimmste, mit dem er zu rechnen hatte, war der 15. Platz. Das war kein Abonnement auf die Meisterschaft, aber es ließ den Kölner selbst dann noch auf die Neureichen aus München und die Provinz aus Dortmund herabblicken, wenn sein Verein, das „Real Madrid des Westens“, hart um den Anschluß ans Mittelfeld kämpfte. Sogar ein Trainer wie Neururer, ein Präsident wie Artzinger-Bolten und die wohl größte Liste von Fehleinkäufen in der deutschen Fußballgeschichte vermochten die schon metaphysische Gewißheit nicht zu erschüttern, daß man in Köln erstklassig ist.

Wie kein anderer Verein steht der 1947 gegründete FC für die beeindruckende und dennoch spröde Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik. Nirgends wurde die Professionalisierung des Fußballs entschlossener vorangetreiben als hier, wo mit dem Niederländer Frans de Munck 1950 auch der erste Fußballgastarbeiter engagiert wurde. Die Meistertitel der sechziger Jahre waren die Früchte eines mit Disziplin und Kalkül erwirtschafteten Fußballwunders. Kölns langjähriger Präsident Franz Kremer regierte nicht weniger selbstherrlich als ein paar Kilometer stromaufwärts sein Parteikamerad Konrad Adenauer, und die Verwurzelung im Arbeitermilieu geht dem FC so sehr ab wie der BRD die Entstehung aus einer Volksbewegung. Dennoch haben sie die direkte Konkurrenz – den Arbeitsstaat DDR beziehungsweise den Arbeiterverein Fortuna – an Popularität weit übertrumpft. Erfolg macht Freunde, und Klüngel ist die kölsche Form der parlamentarischen Demokratie.

Doch das Kölner Erfolgsmodell hat sich überlebt. Verantwortlich dafür sind Selbstgefälligkeit, Ignoranz, das Festhalten an überkommenen Strukturen und Hierarchien. Ähnlich wie der Rheinische Klub droht auch der Rheinische Kapitalismus wegen eines Reformstaus ins Hintertreffen zu geraten. Daß der Gegner zum Abschied ausgerechnet Bayer Leverkusen hieß, ist nicht nur bitter, es ist bezeichnend. Retortenmannschaft, in wenigen Jahren hochgezüchtet mit Millionenbeträgen aus dem Mutterkonzern – das ist die Werksmannschaft von der anderen Rheinseite für die Anhänger des FCs. Und das Schlimme ist: Sie sind einfach besser. Sie spielen den Fußball schöner als die Kölner Dekonstruktivisten, mit ihren Stars läßt es sich leichter identifizieren als mit den Kölner Zufallseinkäufen, ihr Management ist cleverer, ihr Trainer (ein ehemaliger Kölner) feuriger. Fußballerisch sind nicht mehr sie, sondern ist Köln – sprechen wir das harte Wort ruhig aus – Provinz.

Aber dies ist der Lauf der Dinge, dem zu vertrauen nun endgültig kein Anlaß mehr besteht. Köln gegen Leverkusen, das war ein Kampf wie Mittelstand gegen Großkonzern, Brief gegen Handy, Schreibmaschine gegen Computer, Apple gegen Microsoft, Innenstadt gegen das Einkaufszentrum draußen auf der Wiese. Die Schlacht war verloren, bevor sie begann, und vergangenen Samstag zwischen 15.30 Uhr und 17.15 Uhr galt es, die Niederlage nur noch zu besiegeln.

So pilgerten also 40.000 Menschen ins Müngersdorfer Stadion, um dem FC das letzte Geleit zu geben. In anderen Stadien wären nach Abpfiff vielleicht Fahnen verbrannt worden, hier aber wurde die Trauer zelebriert wie in einer klassischen Tragödie, eingeschlossen die „spezifische Lust“ (oikeia hedone), die Aristoteles als eine ihrer Wirkungen beschrieben hat. Die Tribünen ein rotweißes Fahnenmeer, die „Höhner“ spielten die Vereinshymne „Mer stonn zu dir, FC Kölle“, und den Spielern geriet die Büßerprozession nach Abpfiff zur vielleicht bewegendsten Ehrenrunde der Vereinsgeschichte. Und als die lokale Primadonna Trude Herr aus dem Stadionlautsprecher sang „Niemals geht man so ganz, irgendwas von dir bleibt hier“, als Toni Polster nach dem Trikot auch noch Schuhe, Stutzen und Schienenbeinschützer ins Publikum warf, als die Zuschauer sich gegenseitig tröstend in die Arme fielen und es allen gemeinsam kalt den Rücken runterlief, da fühlte sich ein Kölner Iraner, der mit seinen Brüdern, Nichten und Freunden im Block 28 saß, auf einmal ganz zu Hause. Ein solches Passionsspiel, so schrecklich, schön und schaurig, hätte Schiiten nicht besser gelingen können.

Derweil saß auf der Kölner Bank sein Landsmann Azizi, in sich zusammengesunken, regungslos. Am Tag zuvor hatte er im Express noch gesagt, daß er sich ein Bleiben in Köln selbst im Falle des Abstieges vorstellen könnte, denn: „Mein Herz schlägt für diese Stadt.“ Und er hatte hinzugefügt, daß er an das Wunder des Klassenerhaltes noch glaube, weil ihnen mit der iranischen Nationalmannschaft ein ähnliches Wunder gelungen sei.

Also hatte man im Block 28 dafür gebetet, daß Azizi in der eigenen Hälfte angespielt wird, Kirsten und Lehnhoff stehen läßt, Nowottny mit einem Beinschuß versetzt und Heinen alt aussehen läßt. Vergeblich alles (was natürlich am Schiedsrichter lag, diesem Vertreter der Weltungerechtigkeit und des auch fußballerischen Imperialismus). Nun wird Khodadad den Verein eben durch das Tal der Tränen führen (als Schiit ist er dafür prädestiniert), um im nächsten Jahr den Kampf gegen die Leverkusener dieser Welt wiederaufzunehmen. Und vorher gewinnt er die Weltmeisterschaft. Schließlich ist er eine Gabe Gottes, an die ein Kölner glauben muß, sei er Katholik oder Schiit.

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