: Frostige Stimmung zwischen Indien und Pakistan
■ Nach den Atomtests hat Premierminister Vajpayee Mühe, seine Hardliner im Zaum zu halten. Die Regierung in Islamabad, unterstützt von Peking, wittert feindliche Absichten ihres Rivalen
Dehli (taz) – Nach den Atomtests der vergangenen Woche nehmen die Spannungen zwischen Indien und Pakistan an der Waffenstillstandslinie in Kaschmir zu. Indien hat Pakistan gestern verstärkte militärische Aktivität in dem Gebiet vorgeworfen und selbst schwere Waffen in Grenznähe in Stellung gebracht. Der indische Premierminister A.B. Vajpayee hat unterdessen alle Mühe, nach der Euphorie über die Atomtests ein Überborden der Begeisterung in blanken Nationalismus im Zaum zu halten.
So mußte er Anhänger seiner BJP-Partei zurückpfeifen müssen, als diese die Absicht zeigten, zu Tausenden auf das Atomtestgelände nach Pokharan zu pilgern. Dort wollten sie auf Erdkrumen einsammeln und sie über ganz Indien verteilen. Der Präsident der radikalen Hindu-Gruppierung VHP hatte gleichzeitig angekündigt, auf dem Atomtestgelände einen Tempel bauen zu wollen. Vajpayee ließ durch seinen Berater ausrichten, das Gelände sei der Öffentlichkeit nicht zugänglich.
Bei Innenminister L.K. Advani war Vajpayee mit seinem Appell zur Vernunft weniger erfolgreich. Advani griff am Montag Pakistan scharf an und forderte dieses auf, die „neue geostrategische Realität anzuerkennen“ und sich aus Kaschmir herauszuhalten. Er legte am Mittwoch noch eins drauf, als er nach einem Sicherheitstreffen über Kaschmir verlauten ließ, Indien müsse statt der bisherigen „reaktiven Politik“ auf pakistanische Infiltration und Terroranschläge nun eine „pro-aktive Rolle“ spielen. Er limitierte diese zwar auf Armeeaktionen innerhalb des indischen Teils von Kaschmir, aber jenseits der Waffenstillstandslinie wurde dies sofort als Androhung einer Invasion empfunden.
Der pakistanische Premierminister Nawaz Sharif, der sich bisher in seinen Kommentaren eher zurückhielt, nahm Anstoß an dieser „sehr ernsten Drohung“. Der Sprecher des Außenministeriums kritisierte ein „offenes Geltendmachen von Indiens feindseligen Absichten“. Pakistan würde „jeden indischen Abenteuerakt rasch und wirksam beantworten“.
Die harschen Worte sind ein Indiz, daß das politische Klima im Verhältnis zwischen Indien und Pakistan in den letzten Tagen dem Gefrierpunkt genähert hat. Die indischen Atomtests haben in Pakistan eine lähmende Angst verbreitet, die in der Volksmeinung nur durch einen eigenen Atomtest beruhigt werden kann. Pakistanische Zeitungen sind voller Gerüchte über vermeintliche Pläne des Rivalen, den Zeitraum zwischen den indischen und pakistanischen Tests für einen Angriff gegen „Azad Kashmir“ zu nutzen, den von Pakistan besetzten Teil des ehemaligen Maharaja-Königreichs.
Benazir Bhutto nutzt die wachsende Nervosität, um sich als Retterin in der Not anzupreisen und die Regierung von Nawaz Sharif mit radikalen Sprüchen herauszufordern. Wenn diese nicht den Mut habe, gegen Indien einen Präventivschlag zu führen, müsse sie zurücktreten, sagte sie nach ihrer Rückkehr in Karachi, wo ihr wegen Korruptionsklagen die Verhaftung droht.
Die Reaktion von China auf die indischen Tests droht die Stimmung noch weiter anzuheizen. Die Regierung in Peking hat über die staatlich kontrollierten Medien eine Welle von Breitseiten gegen seinen südlichen Nachbarn losgelassen, die in ihrer Schärfe seinesgleichen suchen. Indien wird hegemonistischer Absichten beschuldigt, es wird ultimativ aufgefordert, seine atomaren Absichten aufzugeben, und alte territorialen Forderungen auf Gebiete im östlichen Indien werden wieder hervorgeholt.
Während Delhi seinen Botschafter in Peking zu Konsultationen nach Hause rief, reiste der pakistanische Staatssekretär Shamshad Ahmed in die chinesische Hauptstadt, wo er nach seinen Gesprächen eine vollkommene Übereinstimmung konstatierte. Peking unterstütze alles, was im nationalen Interesse Pakistans sei, sagte er nach seiner Rückkehr.
Noch spricht niemand von Krieg. Die Situation ist allerdings so ernst, daß Vajpayee einige Rückzieher gemacht hat. Er ließ die seine angebliche Behauptung, Indien besitze nun eine „große Bombe“, dementieren. Außerdem korrigierte er seine öffentliche Aussage, Indien werde zur Selbstverteidigung eine Atombombe einsetzen – was einen Erstschlag nicht ausschließt – durch eine Erklärung, Indien werde nie als erstes einen atomaren Angriff führen. Aber er macht kein Hehl daraus, daß die indischen Tests Indiens atomare Waffenkapazität demonstrieren sollten. Bernard Imhasly
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