: Kultur versus Nation
„Multikulti“ gilt als Gemengelage der Nationen. Geschlecht, Generation und Schicht bleiben außen vor ■ Von Arnd-Michael Nohl
Kürzlich ist ein neuer Nachbar in die WDR-Serie „Lindenstraße“ eingezogen, ein türkischer Arzt. Das scheint nicht der Erwähnung wert, sind doch MigrantInnen immer häufiger in Film und Fernsehen vertreten. Bemerkenswert ist jedoch die Geschichte, derentwegen der Mediziner in die „Lindenstraße“ eingebaut wurde: 1995 war ein griechischer Nachbar – natürlich virtuell – in der Türkei gefoltert worden, woraufhin es – ganz real – Proteste der türkischen Einwanderer in Deutschland hagelte.
Ob der schlechten Darstellung der „Heimat“ war man persönlich gekränkt. Die türkischen Medien, immer flink dabei, wenn es darum geht, eine direkte Linie zwischen Türkeikritik und deutschem Rassismus zu ziehen, begannen ihre Kampagne. Der WDR versprach Kompensation und ließ einen „guten Türken“ eine Arztpraxis in der Lindenstraße eröffnen.
Nationale Reflexe werden mit nationalen Beruhigungsmitteln bedient, Differenzierungen eingeschläfert. Da sehen Menschen es als persönliche Beleidigung an, wenn die Folter eines Staates, den sie vor zig Jahren verlassen haben, kritisiert wird. Und dann meint der WDR, ein schlechtes Türkeibild könne mit einem lächelnden Arzt der zweiten Einwanderergeneration wettgemacht werden.
Wer in Menschen nur nationale und ethnische Identitäten sieht, greift bei weitem zu kurz. Vereinfachungen gibt es viele. Die „Russenmafia“ ist in aller Munde, der Zigarettenschmuggel ist „vietnamesisch“ und, um mal ein positives Beispiel anzuführen, der „Italiener um die Ecke“ ist, na klar, italienisch.
Die Multikulturalität unserer Gesellschaft wird als eine Gemengelage der Nationen gesehen. Einwanderung läßt sich so als Steuerungsmittel des multikulturellen Zusammenlebens beschwören. Jede politische Gesinnung macht dies auf ihre Weise: Die einen fordern das Bleiberecht für Vietnamesen, Iraner, Ghanaer und so weiter. Die anderen stellen ein paar tausend an der Küste Italiens gelandete kurdische Flüchtlinge als Bedrohung der inneren Sicherheit dar. Gemein ist ihnen die Überzeugung, ohne MigrantInnen sei Deutschland eine monokulturelle Gesellschaft (ob mensch sie nun fürchtet oder liebt), die erst durch die Einwanderung multikulturell wird.
Doch der nationale Blick täuscht. Im Alltag treffen in der multikulturellen Gesellschaft Menschen aufeinander, die in ihrer Identität mannigfaltig dimensioniert sind. Auch ohne Migration. Die Menschen haben ein Geschlecht, sind einer Generation und Schicht zugehörig, tragen Bildungstitel oder nicht, sprechen einen bestimmten Dialekt und sind in einer konservativen Familie oder vielleicht mit antiautoritären Eltern aufgewachsen. Jede dieser Gemeinsamkeiten kann zu speziellen Lebensweisen und Kulturen führen.
Natürlich kann auch die Migration eine solche gleichartige Erfahrungsbasis bilden, mit der eine besondere Lebensweise einhergeht. Handelt es sich doch um wichtige Erfahrungen, die die Eingewanderten von den Alteingesessenen unterscheiden. Die Gefahr ethnischer Diskriminierung beispielsweise können die Eingewanderten mit dem Rest der Bevölkerung nicht praktisch teilen. Wer es nicht am eigenen Leibe erfahren hat, kann kaum nachvollziehen, was die ständige Angst vor Ausgrenzung bedeutet.
Die Aussage eines jugendlichen Migranten spricht für sich: „Die Deutschen wissen, daß sie hier auch begraben werden, wenn sie einmal sterben. Wir wissen nicht, wo wir uns begraben lassen sollen.“ Sein Herkunftsland stellt für ihn aber keine Alternative dar. Er fragt sich, ob ihm noch nach dem Tod sein Platz in der Gesellschaft streitig gemacht werden wird: „Was ist, wenn später auch unsere Gräber geschändet werden?“
Der elementaren Unsicherheit kann auch dadurch begegnet werden, daß mensch sich auf Stereotype ethnischer Zugehörigkeit zurückzieht. Sich als „Bosnier“ zu bezeichnen, läßt die Mehrdeutigkeit der eigenen Erfahrungen unter dem nationalen Motto eine Einheit finden.
Doch bereits anhand der Erfahrungen von MigrantInnen wird deutlich, daß das Gegensatzpaar Deutsche–Ausländer den Blick aller Beteiligten zu sehr verstellt. Migration ist eine Unternehmung der gesamten Familie – und doch wird gerade die nach Generationen aufgespalten. „Unsere Eltern sind nach Deutschland gekommen, haben hart gearbeitet und viel erreicht“, sagen Jugendliche.
Das Familienprojekt ist auf ökonomischen Erfolg und gesellschaftlichen Aufstieg angelegt. Die zweite Generation spürt den Druck der elterlichen Erwartungen, ohne sie erfüllen zu können. Dem wirtschaftlichen Erfolg der Eltern läßt sich in einer Zeit, die von Rezession und Arbeitslosigkeit gebeutelt wird, nicht länger nacheifern. Wurde nicht auch den jüngeren Deutschen immer der Erfolg der Wirtschaftswunder- Generation vor Augen geführt? „Schaffe, schaffe, Häusle bauen“, schallte es in den achtziger Jahren dem „Keine Startbahn West“ entgegen.
Der Generationenzwist ist nur ein Beispiel für Gemeinsamkeiten, die sichtbar werden, wenn wir uns vom nationalen Blick verabschieden. Es sind nicht nur Paß und Ethnie, die die Menschen in der multikulturellen Gesellschaft voneinander trennen. Es ist nicht nur die Generation, die Alte mit Alten und Junge mit Jungen verbindet.
Die Identitäten in der ohnehin schon immer vielfältigen Gesellschaft sind facettenreich. Immer wieder werden immer anders gelagerte gemeinsame Erfahrungen und Interessenkoalitionen möglich. Immer wieder bauen sich kulturelle Lebensformen und politische Allianzen in der einen oder anderen Dimension der Identitäten auf.
Die Ethnisierung von Multikulti zeitigt fatale Folgen. Im toten Winkel des nationalen Blicks werden Flüchtlingen Sozialleistungen gestrichen und straffällige Jugendliche ohne deutschen Paß in Länder abgeschoben, die sie höchstens vom Urlaub her kennen. Jugendkriminalität und Verarmung, eigentlich alters- und schichtsspezifisch, werden zu Ausländerproblemen erklärt. Der harte Staat wird an Menschen erprobt, die zuvor von der nationalen Propaganda an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden.
Solche Ausgrenzungsprozesse lassen die multikulturelle Gesellschaft auseinanderdriften. Dies läßt sich nur verhindern, wenn wir uns von dem Gedanken verabschieden, die Gesellschaft sei erst durch Einwanderung kulturell bunt geworden. In Politik und Alltag müssen alle Facetten und Dimensionen der Multikultur beleuchtet werden. Erst wenn auch jenseits von ethnischen Zugehörigkeiten Konflikte und Gemeinsamkeiten zum Tragen kommen, wird Multikulturalität möglich.
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