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Sterbensschönes Verderben

Als der Frisierspiegel zum Bildschirm in verstörende Gefühlswelten wurde: Der englische Symbolismus in der Kunsthalle  ■ Von Hajo Schiff

Schöne, Verderben bringende Frauen überall: Adams erste Frau Lilith, die sündige Eva, die männermordende Sphinx, die zauberkundigen Medea und Circe, die mittelalterlichen Feen und Hexen und die verführerisch rotmundige Frau des besten Freundes im Kreise der Präraffaeliten. Die englische Kunst zwischen 1860 und 1910 schwelgt in lustvollen Ängsten und prachtvollen Farben.

Eine Neudefinition des speziell englischen Symbolismus versucht eine Ausstellung der Tate-Gallery, die nach London und München jetzt von der Hamburger Kunsthalle kurzfristig übernommen wurde und mit eigenen Bildern ergänzt auch die Bezüge zu Feuerbach und Böcklin in neuer Weise präsentiert.

Verschiedene Kunsttendenzen finden in der Mitte des letzten Jahrhunderts zusammen: die Präraffeliten mit ihrem Bezug auf die ältere italienische Malerei, der Ästhetizismus mit seiner modernen Selbstbezüglichkeit und die Malerei der Olympier in ihrem Bezug auf die Antike. Der Maler-Gestalter Edward Burne-Jones, der Maler-Dichter Dante Gabriel Rossetti und der Zeichner Aubrey Beardsley sind die bekanntesten Protagonisten einer Kunst, die trotz kom-plexer privater und literarischer Bezüge vor allem Stimmungen zu vermitteln will, ohne eine Geschichte zu erzählen. Wiederzuentdecken ist George Frederic Watts, der in seinem 87jährigen Leben in sehr verschiedenen Ansätzen von der Allegorie zur Abstraktion hier erstmals als Vaterfigur der Symbolisten herausgestellt wird.

Obwohl das victorianische England eine unbestrittene Weltmacht war, macht sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ein fortschreitender Sinnverlust bemerkbar. Dem folgt die Kunst mit der Flucht in ästhetische Selbstverweise des „L'art pour L'art“ oder antwortet mit Zitaten geballten bürgerlichen Wissens.

Müde der realen Macht wird das Boudoir zur Welt und der Frisierspiegel weitet sich zum Bildschirm in verstörende Gefühlswelten. Was den Kindern Alices Wunderland ist, suchen die Älteren in sadomasochistischen Praktiken, Homoerotik oder freien Beziehungen zu Dritt, die Benutzung von Opiaten ist völlig normal.

Doch offiziell herrscht im victorianischen Weltreich, das nahezu über ein Drittel der Erde gebietet, eine rigide Moral, die die Gegenwelten der Symbolisten argwöhnisch beäugt und deren öffentliche Verbreitung durch Verbote und Strafen zu verhindern sucht: Der bekannteste Fall ist 1895 die Verurteilung Oscar Wildes wegen Homosexualität zu zwei Jahren Zwangsarbeit.

So ist der Rückzug in die hermetische, mehrdeutige Welt des Symbolismus auch ein Schutz vor der Verfolgung durch simplifizierende Materialisten und eindeutigkeitsversessene Praktiker. In Lyrik und Malerei wird eine Welt der Psyche geöffnet, wie sie in Wien wenig später ein gewisser Siegmund Freud analysieren sollte. Doch der Symbolismus stemmt sich dem drohenden Zerfall der Welt in Einzelaspekte noch entgegen und baut Bilder, die die auseinanderstrebenden Kräfte noch einmal paradox zusammenfassen: Vergiftete Schönheit und melancholische Heroen, vergeistigte Natur und Verderben bringende Madonnen, gemalte Musik und tödliche Liebe.

Obwohl diese luxuriöse Welt auf den Reichtum angewiesen war, verachtete sie den Materialismus. In einer sonst kaum bemerkten Ironie wurden neue Allegorien erfunden und der rücksichtslose Kapitalismus der Zeit im Bild des weltbeherrschenden vergötterten Mammon gespiegelt. Die momentane positive Neubewertung dieser Kunst in einer großen Wan-derausstellung bietet außer furchtbar schönen Bildern auch die mögliche Übertragung auf unsere aktuelle Fin-de-Siécle-Welt ungeheuren privaten Reichtums bei öffentlicher Armut und gänzlich zersplitterter Sinnsysteme.  

Hamburger Kunsthalle, bis 30. August; Katalogbuch (mit der Hamburger Ausstellung nicht ganz identisch): Verlag Gerd Hatje, 304 Seiten, 49 Mark

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