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Unterwiesen von Lebenden und Toten

Eine ebenso interessante wie ärgerliche Biographie Solschenizyns. Der Reichtum der Bezüge zu den Arbeiten des russischen Schriftstellers und Moralisten fasziniert, aber wichtige Elemente seiner Kritik an Stalinismus und Kapitalismus bleiben ausgeblendet  ■ Von Martin Jander

Gleichgültig, ob die neue Biographie Solschenizyns mehrheitlich Lob oder Tadel ernten wird, sie kommt zum rechten Zeitpunkt auf den deutschen Markt. Die 1974 in der Reihe Rowohlts Monographien erschienene Lebensschilderung ist längst vergriffen, Solschenizyn wird am 11. Dezember dieses Jahres achtzig Jahre alt, und die beginnende Debatte über das Schwarzbuch des Kommunismus wird bei dem einen oder anderen das Bedürfnis entstehen lassen, die Geschichte des bedeutendsten Schriftstellers der stalinschen Lager nachzulesen.

Das Leben Alexandr Solschenizyns, der die Lager überlebte, ihre Geschichte unter schwierigsten Bedingungen erforschte und aufschrieb und mit deren Veröffentlichung nicht nur die Weltöffentlichkeit über die Verbrechen informierte, sondern damit gleichzeitig eine wichtige Grundlage für das Ende der totalitären Regime in ganz Osteuropa legte, ist selbst so aufregend, daß auch Leser, die sie nur zum Zweck nachholender politischer Allgemeinbildung in die Hand nehmen, sich keine Minute langweilen werden.

Solschenizyn wurde 1918 – etwa ein Jahr nach der Oktoberrevolution, mitten im Bürgerkrieg – in dem vormals sehr berühmten Kurort Kislowodsk am nördlichen Rand des Kaukasus geboren. Sein Vater, der als Offizier im Ersten Weltkrieg gegen Deutschland kämpfte, ließ – sechs Monate vor Alexandrs Geburt – sein Leben nicht auf dem Schlachtfeld, sondern bei einem Jagdunfall. Die Familie verlor im Bürgerkrieg nicht nur Angehörige, sondern bei der späteren Zwangskollektivierung auch ihr Hab und Gut. Alexandr wurde deshalb in sehr ärmlichen Verhältnissen – allein von seiner Mutter – in Rostow am Don aufgezogen. Mutter und Sohn lebten dort in einer garagenähnlichen Baracke.

Solschenizyn hätte so allen Anlaß gehabt, den Sozialismus von Anfang an abzulehnen. Es kam jedoch anders. Früh schon wollte er Schriftsteller werden. Er plante ein großes Werk über die Oktoberrevolution. Ausgerechnet in den Jahren des großen stalinistischen Terrors, in denen „Menschenmassen an bewußt herbeigeführter Hungersnot starben, wählte dieser kluge idealistische Schuljunge unter Mißachtung der Ansichten seiner Familie [...] den kommunistischen Weg“. Er studierte Mathematik, Physik und im Fernstudium Geschichte, Philosophie und Literatur. 1940 heiratete er das erste Mal und meldete sich nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion 1941 ganz selbstverständlich sofort zum Militärdienst. Gesundheitsprobleme verhinderten, daß er gleich angenommen wurde. Erst im Herbst 1941, als die Wehrmacht schon kurz vor Moskau stand, wurde er eingezogen.

Zunächst kam er hinter der Front in der Etappe zum Einsatz. Erst nach längeren Bemühungen erhielt er eine beschleunigte Ausbildung zum Artillerieoffizier. Er bewährte sich in verschiedenen Schlachten. In den Gefechtspausen dichtete er und redete seiner Frau – um seine erhoffte Schriftstellerkarriere nicht zu gefährden – die Gründung einer Familie aus. Vorerst blieb er auch begeisterter Anhänger des Marxismus-Leninismus, wenn auch nicht Stalins. Bereits 1943 entwickelt er mit einem anderen Offizier ein Programm zur Liberalisierung der Sowjetunion. Zurückhaltender Spott über Stalin in einem Brief an einen Freund wurde ihm kurz vor Kriegsende zum Verhängnis. Er wurde verhaftet, sein Weg durch Gefängnisse und Lager begann.

Die Überlebensschuld des Lagerhäftlings

Der Horror der Lubjanka und der Verhöre in Moskau, später die Schrecken der Lager, der Kampf ums Überleben, aber vor allem die Geschichten und Schicksale seiner Mithäftlinge, ihre oft bis in die Zarenzeit zurückreichenden Erfahrungen mit Haft und Terror ließen Solschenizyn Schritt für Schritt sein Fasziniertsein vom Leninismus abstreifen. Sie machten aus dem glühenden Verehrer Lenins den Schriftsteller, der den Opfern des Terrors seine Stimme lieh: „Unterwiesen von Lebenden und Toten“ – schreibt Donald M. Thomas –, „begann Solschenizyn eine geistige Wanderschaft. Auf eine Weise, die Mystikern vertraut ist, eröffneten ihm die Härten und die Niedergeschlagenheit den Weg zu schöpferischem Wachstum.“

Dabei sparte er nicht mit deutlicher Selbstkritik. Im „Archipel GULAG“ beispielsweise denkt der Autor beständig darüber nach, welche Verbrechen er wohl selbst begangen hätte, wäre er nicht verhaftet worden. Er trägt in der später entstandenen Literatur eine tiefempfundene Schuld gegenüber den ermordeten Mithäftlingen ab.

In den milderen Chruschtschow-Jahren wurde er rehabilitiert und errang als Verfasser von „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ plötzlichen Ruhm. Die Erzählung brachte erschütternd an den Tag, worüber man in der Öffentlichkeit nur geflüstert hatte. Dann fiel er in Ungnade. Es begann seine Dissidentenzeit, in der er schier unglaubliche Furchtlosigkeit und Kühnheit zeigte. Schließlich entlarvte er durch die Publikation von „Archipel GULAG“ im Westen die gesamte sowjetische Tyrannei seit Lenin.

Er wurde wieder verhaftet, wurde als erster Russe seit Trotzki aus seiner Heimat ausgewiesen und bekam schon nach kurzer Zeit Streit mit seinen Gastgebern im Westen. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Europa kehrt er nach Rußland zurück – und bleibt weiter eine Art Dissident.

Auf den ersten Blick werden die Leser der Biographie begeistert sein vom Reichtum der Bezüge, die der Autor zur Literatur Solschenizyns herstellt. Der Schriftsteller machte sein eigenes Leben zu Literatur, also schließt der Biograph von den Texten auf die Person und zeigt die Bezüge zur Literaturtradition in Rußland, deren Bilder und Themen Solschenizyn aufnimmt. Es muß jedoch befremden, daß im Zentrum des Interesses von Donald M. Thomas an Solschenizyn, aber auch an den von ihm verwendeten Bildern die Liebesverhältnisse des Schriftstellers stehen. Er interessiert sich für die vielen weiblichen Helfer des Dissidenten. Ihre aufopfernde Hingabe und des Schriftstellers angebliche Unfähigkeit, diese Opferbereitschaft als Liebe zu erkennen und zu erwidern, sind dem Biographen ein wichtiges Thema. Er ist überzeugt, Solschenizyns „Selbstdarstellungen zeigen einen erwachsenen Mann: den Krieger, den Schriftsteller, den sek (Häftling), nur selten jedoch den Ehemann oder Liebhaber“.

Ein wenig scheint diese Fixierung der Tatsache geschuldet, daß Thomas vom biographiefeindlichen Solschenizyn nicht zum Interview empfangen wurde. Um so gesprächsbereiter jedoch war Solschenizyns erste – immer noch gekränkte – Ehefrau Natalja Reschetowskaja.

Kritik an Totalitarismus und Demokratie

Für die tiefe Prägung von Solschenizyns Persönlichkeit und Literatur durch Gefängnis und Lager interessiert sich Thomas dagegen weniger. Er hält solche Darstellung für ein Relikt des Kalten Krieges: „Jetzt ist es möglich“ – schreibt er in seiner Danksagung –, „den Kampf gegen die Tyrannei ruhen zu lassen und Solschenizyns Leben ohne Trübungen zu betrachten.“

Was er für einen Zugewinn hält, werden die Leser als Mangel erkennen. Ihm sind viele Details und Zugänge der bislang besten Solschenizyn-Biographie von Michael Scammel, die 1984 leider nur in englischer Sprache erschien, entgangen.

Den Aufbau und die wichtigsten autobiographischen Aussagen Solschenizyns aber hat Thomas von Scammel. Der war vom Schriftstellerdissidenten zum Interview empfangen worden. Nicht übernommen hat Thomas hingegen Scammels Interesse für den sich mit der christlichen Tradition Rußlands auseinandersetzenden und sich dieser immer weiter annähernden Solschenizyn, dessen Christentum durch die Erfahrung der Lager noch erhärtet wurde. Diese schon ältere Biographie beschäftigte sich zentral mit Solschenizyns Widerstand gegen sowjetischen Totalitarismus und seiner gleichzeitigen Kritik an westlich- demokratischen Gesellschaften, die Solschenizyn als dekadent erachtet und als Vorbild für Rußland ablehnt. Er beschäftigt sich zentral mit der Orientierung Solschenizyns nach dem Ende der Faszination, die der Leninismus auf ihn ausübte. Dies wäre auch ein höchst spannendes Thema einer aktuellen Solschenizyn-Biographie gewesen.

Der Eindruck der neuen Biographie bleibt so etwas zwiespältig. Wohl ist sie die detaillierteste und beste, die es in deutscher Sprache gibt. Aber vielleicht wäre eine Übersetzung von Scammels Buch doch lohnender gewesen.

Donald M. Thomas: „Solschenizyn“. Berlin 1998, Propyläen, 670 Seiten, 68 DM

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