: Internet-Branche erschrickt
■ Überraschendes Urteil: Amtsgericht verurteilt ehemaligen CompuServe- Geschäftsführer, weil er verbotene Pornographie verbreitet habe. Der Staatsanwalt plädierte auf Freispruch
München/Berlin (dpa/rtr/taz) – Bayern bleibt sauber. Völlig überraschend hat gestern das Amtsgericht München Felix Somm, den ehemaligen Geschäftsführer der deutschen Tochter des Onlinedienstes CompuServe, zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Somm habe sich, heißt es in der Begründung, der „Mittäterschaft bei der Verbreitung von Kinderpornographie“ aus den sogenannten Newsgroups des Internet schuldig gemacht.
Selbst die Staatsanwaltschaft war verblüfft. Sie ließ im Laufe des Verfahrens, das am 12. Mai begonnen hatte, ihren Vorwurf gegen Somm fallen und plädierte gestern morgen noch einhellig mit der Verteidigung für einen Freispruch. Es sei dem Angeklagten, führte Staatsanwalt Franz von Hunoldtstein aus, weder „technisch möglich“ noch „zumutbar“ gewesen, die Verbreitung von Dokumenten aus dem Internet zu unterbinden, deren Inhalt gegen deutsche Gesetze verstößt.
Somm war 1996 angeklagt worden, weil auch über den Onlinedienst CompuServe Porno-Newsgroups zugänglich sind. Im Herbst 1995 hatte die Polizei die Geschäftsräume von CompuServe Deutschland durchsucht und Somm auf „rechtliche Konsequenzen“ hingewiesen, falls er seinen Kunden auf diesem Wege weiterhin verbotene Pornographie anbiete. Somm ließ umgehend über zweihundert Newsgroups für CompuServe-Kunden sperren, darunter auch solche, die sich zwar mit sexuellen Themen beschäftigen, jedoch keineswegs strafbares Material enthielten. Internet-Nutzer aus aller Welt protestierten heftig gegen diese Maßnahme, die sie als Zensur empfanden.
Die Anklage gegen Somm wurde trotzdem erhoben – nach Ansicht des Verteidigers, des Rechtsanwalts und Juraprofessors Ulrich Sieber, allerdings völlig zu Unrecht. Somm sei als Geschäftsführer der deutschen Tochter für das Angebot der amerikanischen Muttergesellschaft nicht verantwortlich zu machen. Der vom Gericht geladene Sachverständige Kai Fuhrberg erläuterte außerdem, warum selbst die Sperrung bestimmter Internet-Adressen ihren Zweck nicht erfüllen könne.
Tatsächlich sind auf den Rechnern von CompuServe gelöschte Newsgroups im Internet weiterhin zugänglich – auch für CompuServe-Kunden. Denn das Internet ist über jeden Provider frei zugänglich. Technische Möglichkeiten, bestimmte Inhalte auszuschließen, ständen heute noch nicht zur Verfügung, sagte Fuhrberg, und Sieber warnte in seinem Plädoyer gestern noch einmal davor, den „Technologiestandort Deutschland“ vom Internet „abschotten“ zu wollen. Es liege deshalb auch im „Interesse der bayerischen Justiz“, wenn das Gericht dem von Verteidigung und Anklage gemeinsam gestellten Antrag auf Freispruch folge.
Richter Wilhelm Hubbert ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken. Auch die Telekom, unmittelbare Konkurrenz von CompuServe, war sprachlos. Er sei „völlig überrascht“, ließ sich gestern T-Online-Sprecher Lammers vernehmen, man werde dieses Urteil nun „sehr sorgfältig“ prüfen.
Die ganze Branche ist alarmiert. Schon zu Beginn des Prozesses gegen Somm hatte das Bayerische Innenministerium eine eigene Gesetzesinitiative für den Fall angekündigt, daß „deutsche Gerichte entscheiden, Internetprovider seien für die von ihnen verbreiteten Inhalte nicht verantwortlich“. Felix Somm wird wahrscheinlich Berufung gegen das Münchner Urteil einlegen. Käme es zu der Gesetzesinitiative, müßte auch das erst im letzten Sommer verabschiedete „Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz“ (IuKDG) ergänzt werden. Es sieht in seiner jetzt geltenden Fassung ausdrücklich vor, daß Firmen, die einen Zugang zum Internet anbieten, nicht für Inhalte verantwortlich sind, die sie nur aus dem Internet an ihre Kunden weiterleiten. nh
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