: Hallo Erdball! In Superlativen denken!
■ Endlich auch in Hamburg: Christoph Schlingensief eröffnet den Wahlkampf und sammelt Stimmen für die Landesliste seiner Partei der Chancenlosen – Chance 2000
Das Prinzip ist so egomanisch wie einfach: „Wähle Dich selbst!“ steht fett auf den großen Plakaten, mit denen Christoph Schlingensief gestern den Wahlkampf für seine Partei Chance 2000 in Hamburg eröffnete. Bereits vergangene Woche wurde in Berlin im Hotel Prora des Altfilmstars und Neupolitikers der Hamburger Landesverband der „Partei der Chancenlosen“ gegründet. Jetzt aber reisten der unermüdliche 1. Vorsitzende der Partei, Mr. Schlingensief himself, der 2. Vorsitzende, Staatsanwalt Dietrich Kuhlbrodt, sowie diverse glückliche Wahlhelfer an die Elbe, um jene 1546 Stimmen zu sammeln, die erforderlich sind, um für die Bundestagswahl kandidieren zu können.
Das ist natürlich nicht einfach. „Wenn wir den Leuten sagen, wir brauchen keine Parteien mehr, wählt euch selbst, dann haben die sofort Angst, 'ne Waschmaschine nach Hause zu kriegen. Die haben doch Angst, daß sie da sind.“ Selbst scheint der 37jährige eher das Gegenteil zu befürchten, weshalb er auch das siebte daseinsbekundende Kamerateam an diesem Morgen überzeugungswillig für die gute Sache angrinst: „Die Minderheiten sind längst die Mehrheit. Man muß sich als Machtfaktor begreifen. Die Spaßpolitiker sitzen im Bundestag. Das sind die Schauspieler.“
Vor allem unideologisch will die Partei sein. „Chance 2000 ist supersimpel“, sagt Schlingensief. Leider ist es nicht genauso supersimpel, seinem so berühmt wie gefürchteten Redefluß zu folgen, der problemlos bis zur Bundestagswahl durchrauschen könnte. Von der Notwendigkeit, in Superlativen zu denken – „Ein neues Theater für Peymann! Ein neuer Bundestag fürs Volk!“ –, von realen und metaphysischen Arbeitslosen ist die Rede. Konsequenz, irgendwie: Arbeitslosigkeit muß als Beruf anerkannt werden.
Ob „das hier Inszenierung oder Realität“ sei, könne er selbst nicht entscheiden, aber: „Ich lerne hier etwas, was ich im Theater nicht gelernt habe.“ Diese Chance soll jeder haben, weshalb sich auch jeder als Kandidat aufstellen lassen kann (Infos: Kastanienalle 7-9, 10435 Berlin oder www.chance2000.com).
Und sollte tatsächlich ein Direktkandidat ins Parlament kommen? „Der gibt seine Redezeit an Behinderte und Junkies ab. Und baut natürlich einen neuen Bundestag,“ freut sich der 1. Vorsitzende. „Wichtig ist, was vor der Wahl passiert,“ relativiert der 2. Vorsitzende: „In Bonn kann Schlingensief ja nur fragen, wo der Kaffee steht und wo die Diätenkasse.“ Als wäre das nicht superlativwichtig.
Christiane Kühl
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