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1.300 Kilometer Widerstand

Die immer massiveren Proteste gegen die Staudämme im indischen Narmada-Tal zeigen Wirkung: Regierungsbeamte und Bürger überprüfen jetzt das Großprojekt  ■ Aus Pune Rainer Hörig

Trommeln und Schalmeien dröhnen durch die glasklare Nacht, rufen jung und alt zum Dorfplatz, wo Hunderte von Tänzern den Staub aufwirbeln. Die mit weißen Kringeln bemalten Körper der jungen Männer wirken wie Raubkatzen auf der Pirsch. Als der Morgen graut, präparieren sich die Männer für den rituellen Höhepunkt, setzen lange Hüte aus Pfauenfedern auf, drapieren Arme und Beine mit Messingglocken. Dann geht ein meterhoher Scheiterhaufen in Flammen auf. Die Tigertänzer umkreisen das heilige Feuer und fallen allmählich in Trance. Währenddessen verteilen Priester Nüsse und Süßigkeiten, die den Göttern der Berge, dem heiligen Fluß, dem mächtigen Tiger geweiht worden waren.

Bei den Bhil, den fast fünf Millionen Nachfahren der Ureinwohner des westlichen Indien, markiert das Frühlingsfest Holi den Jahreswechsel. „Im Holi-Feuer vernichten wir die Sorgen des alten Jahres,“ erklärt Keshubhai Vasave, Dorfältester von Domkhedi, einem 200-Seelen-Dorf hoch über der Hapeshwar-Schlucht, die der Narmada-Fluß in die schroffen Berge gegraben hat.

Aber heute rufen Gäste aus der Stadt die Festgemeinde zum Protest auf. Man trägt eine aschgraue, aus Pappmaché modellierte Replika eines Staudammes herbei und wirft sie ins Feuer. Dann ertönen die bekannten Parolen: „Der Damm ist eine Bedrohung. Kommt her, wir haben die Chance, ihn umzustoßen!“ Damit ist der Sardar-Sarovar-Damm gemeint, der knapp 50 Kilometer flußabwärts im Nachbarstaat Gujarat entsteht und das Dorf Domkhedi zu überfluten droht.

In den frühen Neunzigern stieß der Widerstand gegen diesen Megadamm eine weltweite Debatte über Sinn und Unsinn großtechnischer Entwicklungsprojekte an. Aufgrund der Erfahrungen mit über 1.000 in Indien gebauten Staudämmen befürchten Kritiker, das Narmada-Projekt, das den Bau von 30 Großdämmen vorsieht, werde Lebensgrundlagen und Gemeinschaft der Bhil zerstören.

Im März 1993 zog sich die Weltbank aus dem Narmada-Projekt zurück. Bald zerfiel die internationale NGO-Allianz, die den Protest der indischen Bauern bis nach Washington getragen hatte. Doch in Indien sprang der gewaltfreie Widerstand auf weitere Dammprojekte über und erfaßt heute fast das ganze, 1.300 Kilometer lange Tal der Narmada. Die „Bewegung zur Rettung der Narmada“ hat bislang vier große Bauvorhaben zum Stillstand gebracht.

In einer mondlosen Nacht brachen sie auf, stolperten über Stock und Stein zum Sammelpunkt Surgaon. Als am 11. Januar 1998 die Sonne aufging, marschierten mehr als 20.000 Frauen und Männer zum Ufer der Narmada und besetzten das Baugelände für den Maheshwar-Damm im Staat Madhya Pradesh. „Die Polizei war völlig überrascht über die Zahl der Demonstranten“, berichtet der Bauer Ramesh Singh Sengar. „Wir hatten die Behörden von unserer Absicht unterrichtet und waren gewarnt worden, die Polizei werde eine Besetzung mit Gewalt verhindern. Aber schließlich waren die 2.000 mit Gewehren und Bambusknüppeln bewaffneten Polizisten zum Zuschauen verdammt.“

2.000 Demonstranten hielten, von den Dörfern der Umgebung versorgt, wochenlang die Stellung. Nach wenigen Tagen zogen die Bauunternehmen ihre Maschinen und Arbeiter ab. Die Regierung im fernen Bhopal gab nach, nachdem sechs Aktivisten in einen Hungerstreik getreten waren. Am 30. Januar verkündete der stellvertretende Regierungschef den Demonstranten, ihre Forderung nach Revision des Projektes werde erfüllt. Die Bauarbeiten ruhten.

Wenige Kilometer flußaufwärts der historischen Stadt Maheshwar soll der erste von Privatfirmen gebaute und betriebene Großstaudamm Indiens entstehen (siehe Kasten). Nach amtlichen Angaben werden 60 Dörfer von der Überflutung betroffen sein, 2.279 Familien müßten umgesiedelt werden.

Doch die Bauern haben hier in der Schwarzerde-Region Nimad, einem der fruchtbarsten Ackerbaugebiete Indiens, ein gutes Auskommen. Der Großbauer Mahadev Patidar etwa bepflanzt seine 20 Hektar Land mit Baumwolle, Zuckerrohr, Hirse und Gemüse. Seine biologisch erzeugte Baumwolle wird nach Europa exportiert. „Die Staudammgesellschaft möchte fünf Hektar meines Landes für den Bau von Arbeiterunterkünften übernehmen. Zunächst bot man 75.000 Rupien pro Hektar, heute sogar 250.000 Rupien.“

Statt zu verkaufen, organisierte Patidar seine Kollegen zum Widerstand. Vertreter der betroffenen Dörfer reisten zum bereits fertiggestellten Bargi-Staudamm am Narmada-Oberlauf. „Seitdem wir mit den Vertriebenen am Bargi- Damm gesprochen haben, die schon vor 20 Jahren ihr Land verloren und bis heute keine Entschädigung erhalten haben, können wir die blumigen Versprechen der Regierung nicht mehr ernst nehmen“, beschreibt Patidar die Stimmung.

Im Dorf Jalud weist Patidar auf lange Risse in den Mauern vieler Häuser hin, die durch Sprengarbeiten am ein Kilometer entfernten Baugelände entstanden sind. Die Bewohner sind wütend: „Mein Land, mein Haus, mein ganzes Leben ist dem Untergang geweiht“, schimpft der Bauer Ramesh Singh Sengar. „Wir brauchen kein besseres Haus, keinen städtischen Luxus. Laßt uns leben, wie wir's gewohnt sind, zwingt uns nicht eure Kultur auf!“

Überall im Narmada-Tal rebellieren die Menschen, denn sie fühlen sich mit dem Land, der Dorfgemeinschaft verbunden. Bauernproteste stoppten 1997 die an Nebenflüssen der Narmada geplanten Großdämme Lower Goi und Upper Veda. Im September 1997 flammte während einer von 5.000 Betroffenen besuchten Versammlung auch der Widerstand gegen das Megaprojekt Narmada Sagar wieder auf, von wo aus 1989 der Protest seinen Anfang nahm. „Das ganze Tal ist jetzt mobilisiert“, triumphiert Medha Patkar, die frühzeitig ergraute Galionsfigur der Protestbewegung.

Damit ist der Kern des Narmada-Projektes, eine kontinuierliche, 500 Kilometer lange Kette von Staubecken am Mittellauf des Flusses, in Frage gestellt. Die Dammprojekte Maheshwar, Omkareshwar und Narmada Sagar sollen nämlich den Sardar-Sarovar- Stausee speisen. Ohne diese Zusatzspeicher wird der Riesendamm in Gujarat sein Potential nicht entfalten können, würde sich also auch finanziell als ein Schlag ins Wasser erweisen. Die Baustelle des Sardar-Sarovar-Dammes liegt einstweilen im Koma. Von den Hunderten von orangefarbenen Lastwagen, die früher wie fleißige Ameisen über das Baugelände krochen, ist weit und breit nichts zu sehen. Im Januar 1995 untersagte das höchste Gericht des Landes eine weitere Erhöhung der Staumauer, bevor nicht die von Überflutung bedrohten Dorfbewohner ordnungsgemäß entschädigt und umgesiedelt worden seien.

Die Narmada ist auf einer Länge von 50 Kilometer angestaut, fast 40 Dörfer sind bereits ganz oder teilweise untergegangen. Zehn Jahre nach Baubeginn sind nicht einmal die Hälfte der Betroffenen umgesiedelt. „Wir versorgen die Umsiedler mit Haus und Ackerland, stellen Trinkwasser, Schulen und Krankenstationen bereit,“ beteuert M.S. Raval, der für Umsiedlung verantwortliche Beamte der Regierung von Gujarat. Da freies Land kaum zur Verfügung steht, muß er Bauern überzeugen, einige ihrer Parzellen zu verkaufen. Umsiedler klagen, der Boden sei schlecht und sie fänden keine Weiden für ihr Vieh. Der Beamte Raval aber ist zum Erfolg verdammt, damit der Damm weiter wachsen kann. Die mehr als 600 Umsiedlerfamilien, die wieder in ihre alten Dörfer zurückkehrten und auf höher gelegenem Land einen Neuanfang versuchten, sind für ihn „alles Diebe und Saufbolde, denen die Prohibition in Gujarat nicht paßt!“.

Während die Protestbewegung in Gujarat als Staatsfeind abgestempelt wird, ist man im Nachbarstaat Madhya Pradesh zum Dialog bereit. Nach unzähligen Protestmärschen und Sitzblockaden wurden im Dezember 1997 drei Arbeitsgruppen eingerichtet, die den Maheshwar- und den Tawa- Damm sowie das gesamte Narmada-Projekt evaluieren und alternative Entwicklungspläne ausarbeiten sollen. Regierungsbeamte arbeiten hier mit unabhängigen Experten und Vertretern der Protestbewegung zusammen. „Unsere Mitarbeit in Regierungskommissionen schließt weitere Protestaktionen nicht aus“, warnt aber Medha Patkar.

Nach den jüngsten Wahlerfolgen nationalkonservativer Parteien könnte der Weg in Zukunft aber steiniger werden. Die Hindupartei BJP führt nun in Gujarat und in Neu Delhi das Regiment, und auch für die Landtagswahlen in Madhya Pradesh im kommenden November werden ihr gute Siegeschancen eingeräumt. Zum erstenmal wären dann alle politischen Hebel für das Narmada-Projekt in einer Hand, die im Namen von Law and order schnell zum Polizeiknüppel greift. Am 7. April brach die von der Kongreß-Partei geführte Landesregierung von Madhya Pradesh ihr Versprechen und ließ die Bauarbeiten am Maheshwar-Damm unter Polizeischutz wiederaufnehmen. Ein Versuch von 2.000 Demonstranten, die Baustelle wieder zu besetzen, wurde brutal niedergeknüppelt. Nun blockieren Bauern die Straßen in ihren Dörfern, um die Bauarbeiten behindern.

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