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Der Protestkandidat

■ Der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Hans-Georg Lorenz, fordert Dzembritzki heraus und will das Profil der SPD schärfen

Hans-Georg Lorenz hat keine Scheu, unbequeme Dinge unverblümt auszusprechen. „Ich hatte die Schnauze voll, wie die Partei in den letzten Jahren zur verlängerten Werkbank der Fraktion geworden ist“, begründet der langjährige innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion seine Kandidatur für den Parteivorsitz. Erfolge ziehe die SPD nur noch aus der Großen Koalition. „Das ist zuwenig. Dabei geht die Partei vor die Hunde.“

Abgesprochen hatte er die Kandidatur mit niemandem, als er ungewöhnlich früh schon im vergangenen November seinen Hut in den Ring warf. „Wer ein schärferes Profil für die Partei will, der muß mich wählen“, stellt der 55jährige Rechtsanwalt fest. Die Partei müsse aus der Zuschauerrolle raus. Es ist sozusagen eine Protestkandidatur. Daß er den Parteivorsitzenden Detlef Dzembritzki ernsthaft in Bedrängnis bringen könnte, hatte niemand erwartet.

Lorenz ist konfliktfreudig, impulsiv und macht Politik mit Leidenschaft – eine seltene Qualität, die ihm innerparteilich jedoch zum Nachteil gerät. Er gilt als unberechenbar. Das ist sein größtes Handicap. „Es erstaunt mich, wenn ich als wechselhaft bezeichnet werde“, versucht er den Ruf abzustreifen, der ihm hartnäckig anhängt.

„Meine Ziele sind immer die gleichen geblieben.“ Chancengleichheit und Emanzipation sind die Schlüsselworte. „Es ist eine einzige Unerträglichkeit, daß Menschen in vielen Teilen der Stadt keine Chance haben, ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen“, redet sich Lorenz in Rage und haut mit der Faust auf das Ledersofa. Um die verschärften sozialen Probleme innerstädtischer Quartiere müsse sich die SPD intensiv kümmern. Chancengleichheit, das ist für ihn, der mit 17 Jahren in die SPD eintrat, nach wie vor ein zentraler sozialdemokratischer Wert. „Das hat mir meine Familie mitgegeben – mich dafür einzusetzen, daß alle eine Chance haben.“ Schon die Mutter war Sozialdemokratin, eine Lehrerin, die den Sohn allein großzog, nachdem der Vater in den letzten Kriegstagen in russische Gefangenschaft geriet und vermutlich erschossen wurde. „Ich war der erste Lorenz, der Abitur machte und studierte“ – sechs Semester Germanistik und Geschichte. Dann sattelte er auf Jura um, weil ihm dies als das bessere Rüstzeug für eine politische Karriere erschien. Geblieben ist eine Vorliebe für Kant und Platon und die Fähigkeit, komplizierte philosophische Sätze auswendig zu zitieren. Die bringt Lorenz, der zu den wenigen begabten Rednern der Fraktion zählt, gerne in parlamentarischen Debatten an.

Seine parteipolitische Karriere begann mit Anfang Zwanzig, als er stellvertretender Juso-Vorsitzender wurde. Die 68er-Revolte hat er aus dieser Warte mit gemischten Gefühlen betrachtet. Den Aufstand der Studenten erlebte er „eher als Störung im Evolutionskonzept der SPD“. Die Skepsis galt vor allem der Protestform, die Ziele waren ähnlich. Ohne den Druck dieser Bewegung wären die Reformen der SPD damals nicht möglich gewesen, beschreibt er die Rollenteilung: „Die 68er haben das Bewußtsein verändert, die SPD hat den institutionellen Wandel vorangetrieben.“ Dennoch: „Ich fühle mich nicht als Teil der 68er- Generation.“

Inzwischen hat Lorenz das Lager gewechselt: über 20 Jahre lang gehörte er dem rechten SPD-Flügel an, seit 15 Jahren ist er auf dem linken Flügel beheimatet. So kann er auf dem Parteitag mit der Unterstützung vieler Linker rechnen, auch wenn er nicht als „wirklicher Linker“ gilt.

Am Ende der 70er Jahre, in der Zeit der Berufsverbote, stand Lorenz noch auf der anderen Seite. Als Oberregierungsrat in der Senatsinnenverwaltung prüfte er Lehrer auf ihre Verfassungstreue. „Politisch war das Schwachsinn“, das sei ihm mit der Zeit klargeworden, so Lorenz rückblickend. Er hält sich zugute, das Verfahren damals liberalisiert zu haben.

Mit den Innensenatoren der CDU sollte sich Lorenz, der seit 1979 dem Abgeordnetenhaus angehört, im Innenausschuß noch so manchen Schlagabtausch liefern. Innensenator Dieter Heckelmann fand er schlicht „unerträglich“. „Da war ich in der Fundamentalopposition. Aber das lag nicht an mir.“ Mit Schönbohm ist das Verhältnis besser. Der Innensenator klopft dem SPD-Mann beim Verlassen des Innenausschusses schon mal kumpelhaft auf die Schulter. „Die Innenpolitiker sind der Kitt der Großen Koalition“, stellt Lorenz gerne fest. Da hält sich der sonst so Konfliktfreudige auch mal zurück, um eine Einigung nicht noch schwieriger zu machen. Auch wenn es in der Inneren Sicherheit einen Grundkonsens gibt, ist Lorenz ein entschiedener Gegner der von Schönbohm favorisierten verdachtsunabhängigen Polizeikontrollen.

Und in der Ausländerpolitik hat Lorenz mit Schönbohm „gar nichts gemeinsam“. Als Anwalt, der sich auf Ausländerrecht spezialisiert hat, ist Lorenz täglich mit der Realität des Einwanderungslandes Deutschland konfrontiert. 90 Prozent seiner Mandaten sind türkischer Herkunft, in seiner Spandauer Kanzlei beschäftigt Lorenz ein deutsch-türkisches Mitarbeiterteam. Im Büro, das sich durch einen eklektizistischen Einrichtungsstil auszeichnet, hängt ein Bild von Kemal Mustafa Atatürk, dem Begründer der säkularen Türkischen Republik. Zimmerdecken und Wände sind mit kleinen, bunten Mosaikmalereien gepflastert, die Lorenz in den langen Stunden der Plenarsitzungen angefertigt hat – so viel Geduld zum Feinziselierten hätte man dem Mann mit dem wuchtigen Auftreten kaum zugetraut. Zur Ausländerpolitik kam Lorenz durch seinen Spandauer Wahlkreis, in dem viele MigrantInnen leben. Doch ist er zu sehr Realist, um einer idealisierten Vorstellung von Multikulti aufzusitzen. „Differenzen nicht verwischen und beschönigen, sondern austragen“ lautet seine Maxime auch hier.

Die Zukunft der SPD sieht Lorenz in einer rot-grünen Koalition – allerdings mehr aus Vernunft als aus Leidenschaft. „Die Gemeinsamkeiten der Großen Koalition sind aufgebraucht.“ Eine andere Ausbildungspolitik, eine soziale Stadtpolitik, Emanzipation von Minderheiten und eine liberale Innenpolitik – „das kann man nur mit den Grünen machen“, so Lorenz. Daß es „genauso mühselig, sogar mühseliger“ wird wie mit der CDU, ist ihm nur zu bewußt. „Aber Rot-Grün hat die Chance zu Ergebnissen.“ Dorothee Winden

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