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Mehr Vermißte gemeldet als Tote im ICE gefunden

■ 25 Tote sind noch nicht identifiziert, aber 168 Familien vermuten ihre Angehörigen darunter

Berlin (taz) – Einsatzabschnitt Identifizierung heißt im nüchternen Verwaltungsdeutsch die Stelle, an der Guido Bergmann derzeit Dienst tut. Als Beamter in der Sonderkommission Eschede fällt ihm und seinen Kollegen die Aufgabe zu, nach der Zugkatastrophe vom vergangenen Mittwoch die Identifizierung der 98 geborgenen Leichen zu koordinieren. Damit ist der Einsatzabschnitt im niedersächsischen Celle zugleich Anlaufstelle für Angehörige von möglichen Opfern. Obwohl eine knappe Woche nach dem Unglück nur noch 25 Todesopfer nicht eindeutig identifiziert sind, fürchten nach wie vor weit mehr als hundertfünfzig Familien, Verwandte im ICE „Wilhelm Conrad Röntgen“ verloren zu haben.

168 Vermißtenmeldungen lagen der Sonderkommission bis Montag nachmittag vor. „Letzte Gewißheit, ob ihre Verwandten tatsächlich unter den Opfern sind, können wir den Anrufern erst nach Abschluß aller Untersuchungen geben“, sagt Guido Bergmann. Bis zu drei Wochen kann das nach Schätzungen des Rechtsmediziners von der Medizinischen Hochschule in Hannover dauern.

„Wir bekommen zum Teil Anfragen aus Amerika und Kanada“, sagt Bergmann, „da wissen die Familien nicht mehr, als daß sich Angehörige zur Zeit in Deutschland aufhalten.“ Rund 300 Vermißtenmeldungen waren seit dem Unglückstag bei der Sonderkommission eingegangen. Während sich viele Fälle klärten, weil die Verschwundenen wieder auftauchten, führten die Meldungen in 73 Fällen zur Identifizierung von Leichen.

Die Wiedererkennung der verbliebenen 25 Toten gestaltet sich doppelt schwierig, weil es sich bei ihnen um die Opfer mit den gravierendsten Verletzungen handelt. Dabei ist die medizinische und kriminaltechnische Untersuchung der Leichen seit vergangenen Samstag abgeschlossen. Was der Sonderkommission Schwierigkeiten bereitet, ist die Zuordnung von Untersuchungsbefunden und Vermißtenmeldungen. „Da gibt es Namen, wo wir den Ehemann schon identifiziert haben, nicht aber die vermutlich mitgereiste Frau“, sagt Polizeiexperte Bergmann. „Theoretisch ist da natürlich denkbar, daß die Ehefrau doch nicht im Zug saß, aber aus anderen Gründen verschwunden ist. Nach aller Erfahrung ist das aber unwahrscheinlich.“

Um die Arbeit der sogenannten Identifizierungskommission zu erleichtern, haben die Ermittler Angehörige von Vermißten gebeten, neben Hinweisen auf äußerliche Kennzeichen auch Zahnarztunterlagen vorzulegen. Erst wenn weder Augenschein noch Zahnuntersuchungen ein Ergebnis bringen, „steigt man in die biologische Untersuchung ein“, wie es ein Experte formuliert. In diesen Fällen bittet die Polizei sogar um „Haare aus dem Ehebett oder aus der Bürste im Badezimmer“, die für Gentests eingesetzt werden können. Aber auch das ist keine Garantie, allen Opfern Namen zuzuordnen. Es kann passieren, daß man am Ende zwar den genetischen Fingerabdruck eines Opfers hat – aber keine Vermißtmeldung. Patrik Schwarz

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