Der Sender, der immer mein Programm sendet

■ „Net.Radio Days 98“ in Berlin: Neue Konzepte für Radiosendungen im Internet

Dem cleanen, digitalen Zeitalter zum Trotz: Mit Ätherrauschen und verschwimmenden Soundfetzen, aus denen Worte hervorquellen, zeigte sich der Jingle der Berliner Net.Radio Days98 programmatisch (www.mikro.org). Es ging nicht um die Simulation alten Radiofeelings durch ein paar Nostalgiker. Vielmehr sollen sich die Stimmen realer Orte auf der Welt durch das Netz zu einer neuartigen globalen Äußerung überlagern.

Das steht in klarem Kontrast zum reinen Webcasting der herkömmlichen Radiosender, die das Internet meist nur als alternatives Übertragungsmedium nutzen und ihr normales Programm anbieten. „Alte Formate gibt es genug. Die Net.Radio Days wollen Stationen mit neuen Konzepten vorstellen“, nannte Herbert Meyer vom Freien Radio Kassel ein Ziel des Treffens von Netz.Radio-Aktivisten aus verschiedensten Weltgegenden.

Vor allem in Berlin ist die Szene aber noch zersplittert. „Wir wollen die vielen kleinen Initiativen vernetzen und dadurch Öffentlichkeit für das Konzept Netz.Radio schaffen“, sagt Thorsten Schilling von „mikro“ (www.mikro.org). Der „Verein zur Förderung von Medienkulturen in Berlin“ hat zusammen mit der Berlier Netz-Radio- Gruppe „convex tv“ (www.art-bag .net/convextv) die Net.Radio Days 98 organisiert. „Berlin taucht in den internationalen Diskussionen über Netz.Radio bisher kaum auf“, sagt Schilling.

Daß das Radio im Internet in Deutschland noch eine viel kleinere Fangemeinde als etwa in den USA hat, ist der Telekom zu verdanken. Wer nicht die Standleitung eines Uniservers nutzen kann und bis zu 2,40 Mark für eine Stunde Lauschen zahlen muß, bleibt beim Normalempfang.

Doch einen Clou hat Netz.Radio, der es schon jetzt allen Telekom-Ortstarifen zum Trotz ungeheuer spannend macht: das Audio- on-Demand. Denn die Netz.Radio-Stationen werden zunehmend zu Archiven, in denen Radiosendungen, Musikstücke und Klangcollagen aufbewahrt werden. Der Nutzer ist nicht mehr auf tägliche Programmzeiten angewiesen. Er hört – und immer mehr auch: sieht – das Programm, wann er will. „Deadstreams“ nennt Herbert Meyer die archivierten Audio- Files im Unterschied zu den „Livestreams“ von Internet-Radioübertragungen in Echtzeit. In diesen Deadstreams steckt das große Potential, mit dem Netz.Radio herkömmliches Radio hinter sich lassen könnte. Das Berliner Radio Internationale Stadt (RIS, www.icf.de/RIS) beispielsweise verfügt bereits über Audio-Files von insgesamt 240 Stunden Länge. „Wir sind jetzt nach zwei Jahren soweit, daß wir auch an die Öffentlichkeit gehen“, sagt Thomax Kaulmann, der Macher von RIS. Bisher sei es aber schwierig, Leute zu finden, die kontinuierlich zum Archiv beitragen. Dabei bietet gerade diese Seite des Netz.Radios die Möglichkeit, an allen etablierten Vertriebskanälen wie Plattenlabeln und Radiosendern vorbei Musik in die Öffentlichkeit zu bringen. Und das muß nicht nur der Ambient-Stil sein, der heute Netz.Radio-Kultur beherrscht.

Die Weiterentwicklung von Netz.Radio stößt bisher aber auch an technische Grenzen. Die Software RealAudio Player stellt de facto den konkurrenzlosen Standard dar, um Audio-Files auf dem eigenen Rechner anhören zu können. Da der Code, in dem der RealAudio Player programmiert ist, nicht allgemein zugänglich ist, kann es bislang nicht von kreativen Köpfen für neue lokale Konzepte weiterentwickelt werden. Das wird sich so schnell nicht ändern, weil das Programm nach dem Kauf von RealAudio durch Microsoft im neuen Windows 98 versenkt ist. Niels Boeing

nbo@taz.de