: Ruckelsturm online in der Abseitsfalle
■ Auch Fußballfans müssen in der Zeit der Weltmeisterschaft nicht auf das tägliche Surfen verzichten: Sie können getippte Reportagen lesen, und Günter Netzer erklärt ihnen mit Hilfe einer israelischen
T-Online-Chef Wolfgang Keuntje hat eine Vision: „Es wird schon bald, auch wenn jetzt darüber geschmunzelt wird, Live- Spiele im Internet geben.“ Welchen Sinn es hat, Fußballspiele ins Internet zu übertragen? Das sagt Keuntje nicht. Aber solche Fragen stellt sich schon seit langem niemand mehr. Was technisch machbar ist, das wird auch gemacht. Jürgen Klinsmann im Ruckelsturm? Das deutsche Tor samt Keeper Andi Köpke im Briefmarkenformat? Der belgische Publikumsliebling Marc Wilmots („Willi das Kampfschwein“) in der Lupenabseitsfalle?
Wolfgang Keuntje ist garantiert kein Fußballfan, kann keiner sein, sonst hätte er das mit dem Schmunzeln nicht gesagt. Schreien, das wäre der richtige Begriff, und zwar so laut, daß es alle hören. Wenn Fußballfans ins Netz gehen, dann finden sie dort nicht erst morgen, sondern schon heute mehr und Besseres als Live-Reportagen. Das Internet ist von Sendezeiten unabhängig, das ist seine Stärke. Fernsehreportagen zu einzelnen Mannschaften beispielsweise sind schnell mal verpaßt. Im Netz kann alles jederzeit abgerufen werden, und nur dort erfährt man, daß die jamaikanische Mannschaft seit einem Jahr kein Heimspiel verloren hat. Das liegt vielleicht daran, daß in Kingston vermutlich vor jedem Spiel der Joint kreist, ohne daß sich einer daran stört. Es ist absehbar, daß die „Reggae-Boyz“ auch im Internet der Liebling des Publikums werden. Eine echte Chance haben sie jedoch nicht; gegen die Profis aus Brasilien, Italien und Deutschland kann auch der heißeste „Riddim“ nichts ausrichten.
Originale Fernsehbilder können die vielen Websites, die extra zur Fußball-WM 98 eingerichtet wurden, ohnehin nicht anbieten. Das liegt weniger an der miesen Qualität von Video-Streams, sondern daran, daß der Weltfußballverband Fifa schon 1987 die TV- Rechte exklusiv an die Europäische Rundfunkunion (EBU) verkauft hat. Darin sind neben ARD und ZDF 64 weitere Sender zusammengeschlossen, und abgesehen davon, daß 1987 noch keiner an das Internet dachte, hat dort niemand Interesse daran, daß das Internet die Fußballfans vom Fernseher weglockt.
Die Website der Zeitschrift tv today (www.tvtoday.de/wm98) weiß sich dennoch zu helfen: Anstelle des Videostreams mit seinen drei Bildern pro Sekunde überträgt sie alle drei Sekunden ein Standbild. Das ist kein großer Unterschied, Rechte werden nicht verletzt, und den für Atmosphäre und Information wichtigen Ton erhält man im Radio oder, falls der Rechner und die Verbindung das mitmachen, von den WM-Seiten der ARD. Einige Spiele finden nachmittags statt, und für Fußballer, die zu dieser Zeit noch im Büro sitzen müssen, ist das eine akzeptable Notlösung.
Aber nach Feierabend schalten auch die Netzfans um. Fußball live ist ein visuelles Ereignis, das muß man sehen, damit es Spaß macht. Möglichst groß, mit professioneller Bildregie und fundierten Kommentaren. Hintergrundberichte, Begebenheiten am Rande, Aktuelles vom Training, die Geschichte der Mannschaften und der Spieler – all das ist nett, aber nicht wirklich wichtig und für die WM-Webseiten von ARD und ZDF nur „programmbegleitend“. Auf die Spiele kommt es an, und die gibt es nur im Fernsehen. Das wissen die Sender und wollen daran nichts ändern.
Für ein paar Zutaten der Öffentlich-Rechtlichen lohnt es sich aber doch, den Computer einzuloggen. Was aus der Perspektive der Fernsehkamera manchmal nicht erfaßt werden kann und zu heftigen Diskussionen führt, zeigt die „virtuelle Zeitlupe“ auf den WM-Seiten der ARD (www.ard wm98.de) nun ganz deutlich. Dank israelischer 3-D-Spezialsoftware können sich Onliner die entscheidenden Schlüsselszenen noch einmal anschauen – beliebig oft und aus frei wählbaren Kamerapositionen. Dazu ist das Browser-Plug-in „VirtuaLive“ erforderlich, das über einen Link auf der ARD- Seite geladen werden kann. Situationen wie bei der WM66 im Endspiel der Deutschen gegen England, wo bis heute ungeklärt ist, ob der Ball drin war oder nicht, soll es mit VirtuaLive nicht mehr geben. Die Entscheidung des Schiedsrichters gilt jedoch auch dann, wenn sich hinterher herausstellt, daß er die Situation während des Spiels falsch gesehen hat.
Auch der Exfußballer und ARD-Gastexperte Günter Netzer („Internetzer“) wird diese Technik nutzen, um einzelne Spielszenen noch einmal aus seiner Sicht zu kommentieren – und zwar sowohl im Fernsehen wie auch im Internet. Damit hat er – im Gegensatz zu seinem Experten-Kollegen beim ZDF (www.zdf.de) – wenigstens eine sinnvolle Aufgabe. Bei all den Innovationen, die hochbezahlte Spezialisten für die WM ersonnen haben, hat man vergessen, einen Kalli-Feldkamp-Filter zu installieren.
Die Kollegen von Sat.1-„ran“ (www.ran.de) und DSF-„SportsWorld“ (www.dsf.de) sitzen in der zweiten Reihe und können ebenso wie Opel (www.wc98.com) und alle anderen keine Videobilder aufbereiten. Sie haben sich auf die Stärke des Internets besonnen: auf Information in Textform. Getippte Live-Reportagen – das klingt spannend und ist zumindest ein interessantes Experiment. Auch die offizielle Webseite der WM (www.france98.com) meldet jeden Strafstoß, jedes Foul, jeden Eckball, so schnell die Finger tippen können. Leider nur in Französisch und Englisch. Dazu gibt es fast überall Gewinnspiele: sie sollen die Leute auf die Seite locken.
Der Deutsche Fußballbund ist ein bißchen träge und hat erst am letzten Wochenende seine Website eröffnet. Eine eigene Domain kann er sich offenbar nicht leisten, man findet ihn auf dem T-Online- Server (www.dfb.t-online.de). Schwerpunkt soll die WM in Frankreich sein, wo in erster Linie über das deutsche Team berichtet wird. Statistiken, Reportagen, eben das übliche Zeug – diesmal aus DFB-Sicht. Den „internationalen Aspekt“ will man aber auch berücksichtigen. Bis es soweit ist, richtet unser Bundes-Berti schon mal von der WM-Seite des ZDF per Videoclip Grüße an alle Freunde des Internets.
Wolfgang Keuntjes Vision vom Fußball per Internet wird wohl erst zur WM 2002 Realität werden. Die findet in Japan und Süd-Korea statt und wird von Sat.1 übertragen. Bis dahin wird es, vermutlich mit ADSL, auch eine Technik geben, die die zur Übertragung von Fernsehbildern in vernünftiger Größe erforderliche Bandbreite anbietet. Dieter Grönling
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