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Widerstand in blauem Chiffon

Türkische Studentinnen demonstrieren für ihr Recht, ein Kopftuch tragen zu dürfen – und werden dafür vom Studium ausgeschlossen. Westliche Menschenrechtsorganisationen tun nichts, um das zu ändern  ■ Von Dilek Zaptçioglu

Die Medizinstudentin Nilüfer will Gehirnchirurgin werden. Wenn sie durch das kolossale Tor der Universität Instanbul wieder hindurchgehen dürfte, könnte sie im Sommer ihr Praktikum beenden. Dann wäre das Diplom nicht mehr weit. Die junge Frau liest nicht nur medizinische Wälzer, sie diskutiert auch die „Ambivalenz der Moderne“ und das „Ende des Positivismus“ – und sie ist eine Verfechterin der Gleichberechtigung: „Gott hat uns alle gleich geschaffen, die Frauen stehen den Männern in nichts zurück, nur ist unsere Natur eine andere als die der Männer, aber es ist auch gut so.“

Nilüfers Optimismus ist geradezu deprimierend, denn sie gehört zu den 138 Studentinnen der Medizinischen Fakultät Carrahpascha, denen der Abschluß verwehrt wird – weil die „Kleiderschrank- Revolutionäre“, wie Nilüfer die kemalistische Führungselite aus Armee, Bürokratie und Intellektuellen nennt, ihre weibliche Freiheit seit vorigem Jahr anders definiert als sie und ihre Freundinnen. Nach langen Verhören wurde sie unter die „härtesten Fälle“ eingestuft und für sechs Monate vom Studium ausgeschlossen. Wenn sie danach zu ihrem langen, wallenden Mantel immer noch das Kopftuch trägt, wird sie endgültig exmatrikuliert. Deshalb kommt sie tagtäglich zum Beyazit-Platz, wo es vor Ordnungshütern nur so wimmelt, und gesellt sich zu den StudentInnen, die seit Oktober gegen die „Kopftuch-und-Bart-Verordnung“ des Rektors Kemal Alemdaroglu protestieren. Auf Transparenten schwingt er im Bärenfell das Beil: „Fred Rektorstein, deine Gesinnung gehört der Steinzeit an.“

Manche Studentinnen stecken ihre Köpfe unter den Transparenten zusammen und wischen sich gegenseitig ihre Tränen weg. Die Examen beginnen in zehn Tagen, und seit neuestem gilt ein verschärfter Erlaß: Wer am Protest außerhalb der Universität teilnimmt, wird vom Studium suspendiert. Betroffen sind vom „Kopftuch- und Bartverbot“ nach Angaben der islamischen Studierenden über fünftausend StudentInnen, das sind fünf Prozent aller Studierenden in der Türkei.

Der islamische Menschenrechtsverein Mazlum-Der hat eine Kopftuchkommission gegründet und informiert die Öffentlichkeit über die ungerechte Behandlung der StudentInnen. „Die Europäer schweigen, wie sie auch zu Bosnien geschwiegen haben“, antwortet einer auf die Frage, ob sie auch Unterstützung von westlichen MenschenrechtlerInnen bekommen.

Die Studentinnen haben aus blauem Chiffon kleine Quadrate geschnitten und stecken sie den Passanten an – Freiheit für das Kopftuch. Die PolizistInnen, Antiterroreinheiten, weibliche Rambos in gepanzerten Mannschaftswagen, sie schauen heute dem Ende des Sitzstreiks nicht untätig zu. Nach einem kleinen Handgemenge landen Schlagstöcke auf den Schultern und Armen der jungen Frauen. Verletzte, Verhaftete. Wie fast jeden Tag, seitdem der Nationale Sicherheitsrat den „Fundamentalismus“ zur Gefahr Nummer eins für die moderne Republik erklärt hat.

Wie die meisten der verhüllten Studentinnen an den 75 Universitäten und Hochschulen des Landes stammt Nilüfer aus einer anatolischen Kleinstadt. Sie absolvierte eine der sogenannten Imam- und Predigerschulen, die Anfang der fünfziger Jahre eingerichtet wurden und seit 1975 auch Mädchen aufnehmen. Traditionelle Familien begannen damals ihre Töchter, die sie nicht der staatlichen Koedukation übergeben wollten, auf diese Gymnasien zu schicken. Die Schule wird zum einzigen Wagen des Bildungszuges, in den die Mädchen vom Land und aus gläubigen Kreisen einsteigen können. Es gibt neben Religionsunterricht auch Türkisch, Mathematik und die naturwissenschaftlichen Fächer. So machen die Predigerschulen die Moderne der traditionellen Welt des Volkes zugänglich, das die kemalistischen Reformen bis dahin nur als Zaungäste erleben durfte.

Sie sind intelligent, sie sind fleißig, und je freier sie sich unter Gleichen fühlen, desto erfolgreicher werden sie. Viele Mädchen schaffen die zweistufige Aufnahmeprüfung und strömen seit den achtziger Jahren in die Universitäten. Sie schneiden so gut ab, daß sich die Hörsäle der heißbegehrten medizinischen oder juristischen Fakultäten plötzlich mit ihren bunten Tüchern füllen.

Wenn aber die Eliten das Tuch statt auf dem Kopf ihrer Putzfrauen oder der Fabrikarbeiterin nun in den Fluren der heiligen Bildungsstätten erblicken, reagieren sie ratlos bis wütend: Wie ist es möglich, daß sich Studentinnen freiwillig verhüllen? Sie werden dazu gezwungen, heißt es, man hat sie einer Gehirnwäsche unterzogen, sie werden von den Fundamentalisten bezahlt, nein, eine Frau in der modernen Türkei kann sich nicht aus freien Stücken ein Kopftuch aufsetzen, da steckt bestimmt eine dunkle Macht dahinter, iranische Mullahs, die Saudis, Amerikaner, Afghanen – niemand traut ihnen einen freien Willen und eigene Gedanken zu.

Was die Laizisten abfällig als „türban“ bezeichnen, hat mit dem mehrfach um den Männerkopf gewickelten langen Schal nichts zu tun und ist auch etwas anderes als das gewöhnliche Kopftuch, das immer nur auf die einengende Tradition hindeutet. „Turban“ ist ein Produkt der Moderne: Ein großes Tuch aus Seide wird im Nacken geschickt zusammengebunden, ganz à la Audrey Hepburn, nur ohne die schwarze Sonnenbrille und das Cabrio mit Cary Grant am Lenkrad. Indem die Frauen das Tuch auf eine andere Weise umbinden als ihre Männer, sprechen sie sich von jahrhundertealter Tradition los und schaffen ihre eigene Ästhetik. (Wobei Audrey Hepburn außerhalb des Cabrios ihr Tuch elegant unterm Kinn knotete.)

Erfunden wurde „türban“ von einer Frau, die heute in schwarzen, wiederum selbstkreierten Schleiern auftritt. Sule Yüksel Senler ist eine eigensinnige, stolze Frau. Sie gehörte früher zu den Schönsten des Landes und versteckt sich heute vor den Kameras, weil sie „schon so alt und häßlich“ geworden ist. Die Grande Dame der islamischen Frauenemanzipation erzählt von dem Tag, an dem sie zum erstenmal ihr Haar verhüllte: „Ich stehe vor dem Spiegel und kann das Tuch nicht mit meiner Eitelkeit vereinbaren. Ich binde es um, der Spiegel spottet: ,Sie werden sagen, du sähest aus wie ein Großmütterchen.‘ Sofort ziehe ich es wieder herunter. Aber was heißt denn hier Großmütterchen? Ich bin noch sehr jung, mein Teint strahlend frisch. ,Alle werden sich nach dir umschauen!‘ Ich habe Angst. Aber ich bin entschlossen, ich werde das Tuch anbehalten. Na und, sage ich mir, dann schaue ich eben niemandem ins Gesicht.“ Frau Senler geht hinaus, und niemand beachtet sie – „weder ist eine Bombe hochgegangen, noch sind die Außerirdischen angetanzt. Ich war voller Stolz und sagte mir: ,Sule, du bist besser als alle anderen Frauen!‘ Was für ein falscher Gedanke, denn im Islam gibt es keinen Zwang, und man kann nicht wissen, wer gut oder schlecht ist.“ Man schrieb das Jahr 1965, als sie den „Sule- Kopf“ erfand, der heute von Nilüfer und ihren Freundinnen nachgeahmt wird.

Nachdem Senler wegen eines Artikels mehrere Monate im Gefängnis verbracht hat, schreibt sie einen Roman. „Huzur Sokagi“ – „Die Straße der Glückseligkeit“ – ist der erste islamische Liebesroman, der neben göttlicher auch von irdischer Liebe erzählt; er wurde seit seinem Erscheinen 1968 über siebzigmal aufgelegt. Die Autorin fährt jahrelang durch ganz Anatolien, wo sie in überfüllten Sälen über die „Philosophie unserer islamischen Kleidung“ referiert. Ihre Zuhörerinnen ziehen sich beim Verlassen der Veranstaltung die Jäckchen über den Kopf oder borgen die Schultertücher anderer Frauen aus, um ihren Kopf auf der Stelle zu bedecken.

Der Kampf der jungen Frauen um ihr Kopftuch läßt viele ihr altes Verständnis von Modernität und Demokratie überdenken. Für den armenischstämmigen Vordenker der gescheiterten „Bewegung für Neue Demokratie“, Etyen Mahcupyan, kann es nur eine einzige demokratische Denk- und Handlungsweise gegenüber dem Kopftuchverbot geben: „Das Verbot ist nicht gesellschaftlich legitimiert.“ Der Islam dränge auf die öffentliche Bühne, und solange er nicht Gewalt propagiere oder anwende, müsse ihm dieses Recht eingeräumt werden. „Der Staat hat durch das Verbot der Refah und der kurdischen HADEP weiten Kreisen in der Gesellschaft das Recht auf politische Betätigung genommen“, schreibt er unermüdlich in seiner Kolumne in der Tageszeitung Radikal und plädiert für eine Demokratie, die auch unterschiedlichen Identitäten und ihrer Suche nach einer eigenständigen Modernität Platz einräumt.

Meldungen aus ganz Anatolien beweisen den erfinderischen Geist der Bestraften: Studentinnen und Staatsbedienstete lassen sich chronische Stirnhöhlen- oder Mittelohrentzündungen bescheinigen, um ihre Kopfbedeckung „aus gesundheitlichen Gründen“ anbehalten zu können. Das Perückengeschäft boomt. Andererseits macht sich auch eine Resignation unter den Studenten breit: Die Busse nach Anatolien füllen sich mit jungen Frauen, die die Hoffnung auf einen Beruf aufgegeben haben und nun in ihre traditionelle Rolle als Ehefrau und Mutter zurückkehren müssen. Was also ist rückschrittlicher: das Kopftuch oder sein Verbot?

Nilüfer hat jedoch die Hoffnung nicht aufgegeben. Sie sitzt immer noch tapfer auf dem Beyazit-Platz vor dem Universitätstor und füttert die Tauben. Heute hat sie ein besonders schön gemustertes, seidenes Tuch auf. Der Widerstand der Studentinnen dauert an, und wie jeder Widerstand hat er seine besondere Ästhetik.

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